Protestbewegung im Iran will „kein Zurück“
Unfassbare Bilder aus dem Iran sind in den letzten 24 Stunden in den sozialen Medien veröffentlicht worden: Auf Motorrädern patrouillierende Sicherheitskräfte schießen auf ein Auto, in dem der mit seinem Smartphone filmende Beifahrer sitzt. Ob er die Schüsse überlebt hat, ist unklar. Ein anderes Video zeigt Studenten, die von „Bassidschis“, einer paramilitärischen Hilfspolizei, durch ein Parkhaus in Teheran gejagt werden. In Tränengasschwaden rennen die jungen Menschen um ihr Leben. Immer wieder fallen Schüsse. Zwei junge Frauen stürzen zu Boden. Auch ihr Schicksal ist ungewiss.
Das Parkhaus liegt nur einige Hundert Meter von der Sharif-Universität in Teheran entfernt. Auf dem Campus der Lehranstalt wurden am Sonntag Tausende Studierende eingeschlossen, zusammengetrieben und von der Polizei mit langen Holzknüppeln verprügelt. Die Studenten hatten an friedlichen Protesten teilgenommen, die nach dem Tod der 22jährigen Mahsa Amini ausgebrochen waren.
Die aus dem iranischen Kurdistan stammende junge Frau war wegen ihres „unislamischen Outfit“, ihres angeblich schlecht sitzenden Kopftuches, festgenommen und in Polizeigewahrsam vermutlich brutal misshandelt worden. Mahsa, behauptet die Polizei, sei an „plötzlichem Herzversagen“gestorben.
Bei den landesweiten Protesten, bei denen nach noch unbestätigten Berichten mehr als 100 Menschen ums Leben gekommen sein sollen, geht es längst nicht mehr um die Abschaffung der Pflicht, mit einem „Hidschab“oder Kopftuch das gesamte Haupthaar vollständig zu verhüllen. Die meisten der Protestierenden fordern inzwischen den Sturz des islamischen Regimes, das für jahrzehntelange Misswirtschaft, andauernde Drangsalierung und mangelnde Lebensqualität verantwortlich gemacht wird.
Wie bedrohlich die Lage für das islamische Regime ist, haben inzwischen die höchsten Entscheidungsträger begriffen. In einer Sondersitzung sagte Parlamentssprecher Mohammed Bagher Qalibaf am Sonntag den Abgeordneten, dass „die Demonstrationen dieses Mal auf einen Sturz der Regierung abzielen“. So deutlich hatte dies noch kein iranischer Offizieller verkündet.
In seinen überraschend ehrlichen Bemerkungen versprach der Parlamentssprecher „die Strukturen und Methoden der Sittenpolizei“
Eine Frau mit einer Gesichtsbemalung, die Frankreichs ikonische „Marianne“als Anführerin eines Aufstandes darstellt, nimmt an einer Demonstration zur Unterstützung der iranischen Protestbewegung teil.
zu ändern. Gleichzeitig ließ er keinen Zweifel daran, dass die Sicherheitskräfte auch künftig, „mit aller Entschlossenheit gegen diejenigen vorgehen, die die öffentliche Ordnung gefährden“.
Eine vom „Luxemburger Wort“kontaktierte Sprecherin der Protestbewegung, die ihren Namen aus verständlichen Gründen nicht gedruckt sehen möchte, bezeichnete die Äußerungen des Parlamentssprechers als „erbärmlich“. „Das Regime hat Angst und gibt dies zum ersten Mal sogar zu“, sagte sie. Für ihre Bewegung gebe es nach dem Tod von Mahsa „kein Zurück mehr“.
Die iranischen Behörden hatten am Samstag die Verhaftung von neun Europäern, unter ihnen Deutsche, Franzosen und Italiener, bekannt gegeben. Sie sollen als „Drahtzieher“an den Protesten beteiligt gewesen sein.