Heftige Schlappe: Britische Regierung vollzieht Kehrtwende
So schnell kann es gehen. Noch am Sonntagmorgen hatte die britische Premierministerin Liz Truss eiserne Entschlossenheit demonstriert, sie war überzeugt, dass ihre Wirtschaftspolitik die richtige sei. „Ich halte an unserem Paket fest“, sagte sie in der BBC – also auch an einer höchst kontroversen Steuersenkung, von der nur die reichsten Briten profitieren würden.
Aber schon gestern früh war es damit vorbei: Schatzkanzler Kwasi Kwarteng kündigte einen Rückzieher an, nach über einer Woche der Turbulenzen auf den Finanzmärkten und wachsendem Druck von Parteikollegen wurde der Plan verworfen. „Die Steuersenkung war zu einer Ablenkung geworden“, sagte Kwarteng als Erklärung.
Es war eine erniedrigende Kehrtwende – aber eine, die nicht eben überraschend kam. Der Haushaltsplan, den Kwarteng am 23. September vorgestellt hatte, löste massive Turbulenzen auf den Finanzmärkten aus. Das Pfund stürzte letzte Woche auf den tiefsten Dollar-Wert seit vielen Jahrzehnten und die Zinssätze auf britische Staatsanleihen schossen in die Höhe. Manche Analysten befürchteten zeitweise, gleich würde eine handfeste Finanzkrise einschlagen. Am Ende sah sich die Notenbank gezwungen, am Anleihemarkt zu intervenieren, um die Märkte zu beruhigen.
Der Grund für den Tumult auf den Märkten war die mangelnde Zuversicht, dass die Steuersenkungen bezahlbar sind. Die Sorge war, dass sie die öffentlichen Finanzen Großbritanniens zu sehr strapazieren würden. Kwarteng wollte unter anderem den Spitzensteuersatz von 45 Prozent auf 40 Prozent senken; nur Leute, die mehr als 150 000 Pfund verdienen, hätten davon profitiert. Zudem sagte er die geplante Erhöhung der Körperschaftssteuer von 19 auf 25 Prozent ab, und er stellte eine Senkung des niedrigsten Steuersatzes von 20 auf 19 Prozent in Aussicht.
Der Vertrauensverlust auf den internationalen Märkten war auch der Tatsache geschuldet, dass der Finanzminister auf eine unabhängige Prüfung seines Pakets verzichtet hatte. Normalerweise kalkuliert der Rechnungshof Office for Budget Responsibility (OBR), was für Konsequenzen ein Haushaltsplan haben wird. Aber obwohl das OBR mit einer kurzen Prognose zur Stelle gewesen wäre, meinte Kwarteng: Brauchen wir nicht. Laut Analysten hätte das Steuersenkungsprogramm insgesamt rund 45 Milliarden Pfund gekostet.
Mit der Kehrtwende von gestern konnte die Regierung erst mal die Gemüter beruhigen. Der Wert des Pfunds stieg sprungartig an und ist im Vergleich zum Dollar wieder auf dem Niveau vor den Turbulenzen der vergangenen Woche. Aber die Probleme für die Regierung sind damit noch nicht vorbei.
Nachspiel für Truss
Zum einen ist die Art und Weise, wie sie zu ihrer drastischen Kursänderung gezwungen wurde, überaus peinlich. Superreiche Tory-Geldgeber hätten im Prinzip der Regierung gesagt, dass sie die Steuersenkung nicht brauchen, und dass sie die Partei in Verruf bringe, schrieb der Finanzjournalist Robert Peston auf Twitter. Er sprach von einer „politischen Farce“. Die Autorität von Liz Truss und ihrem Weggefährten Kwarteng hat schweren Schaden genommen – just zum Auftakt des ToryParteitags in Birmingham. „Der Schaden ist bereits angerichtet“, sagte der Tory-Bürgermeister der nordenglischen Region Tees Valley.
Zum anderen war die Steuersenkung für Reiche zwar von der Optik her ein größeres Problem für die Tories – immerhin sorgen sich Millionen von Briten, wie sie in diesem Winter angesichts der hohen Inflation
über die Runden kommen. Aber in rein finanzieller Hinsicht war sie nicht besonders erheblich: Paul Johnson, der Direktor des Thinktanks Institute for Fiscal Studies, schreibt, dass die Steuersenkung der kleinste Teil des Haushaltspakets gewesen sei – rund zwei Milliarden von insgesamt 45 Milliarden
Pfund: „Die Kehrtwende hat im Prinzip keine Folgen für die fiskale Nachhaltigkeit“, schreibt Johnson.
Dazu kommt die Tatsache, dass Truss und Kwarteng offensichtlich größere öffentliche Einsparungen im Sinn haben – die Rede ist von 18 Milliarden Pfund an Kürzungen im öffentlichen Sektor. Damit würde die Regierung zurückkehren zur Politik der Austerität, die die Jahre nach der Finanzkrise von 2008 prägte; die Konsequenzen für Schulen und Krankenhäuser wären dramatisch, warnen Ökonomen. Das sorgt auf den Tory-Bänken im Unterhaus für Konsternation. Der ehemalige Sozialminister Stephen Crabb sagte in einem Radiointerview, dass es „einige recht harte Gespräche mit Hinterbänklern geben werde, wo diese Einsparungen anfallen werden.“Er meinte: Die Kehrtwende bezüglich der Steuersenkung werde wohl keinen Strich ziehen unter die Kontroverse rund um Kwartengs Wirtschaftspolitik.
Die Steuersenkung war zu einer Ablenkung geworden. Finanzminister Kwasi Kwarteng
Bei der vorgezogenen Parlamentswahl in Bulgarien ist die prowestliche bürgerliche Oppositionspartei GERB ersten Prognosen zufolge mit rund 25 Prozent der Stimmen stärkste Partei geworden. Die drei Parteien der zuletzt regierenden Koalition verloren ihre Mehrheit. Damit blieb zunächst unklar, welche Parteien gemeinsam eine neue Regierung bilden könnten. Vor der Wahl waren mögliche Bündnisse ausgeschlossen worden und mehrere Parteien warfen sich gegenseitig vor, korrupt zu sein.
Niedrige Wahlbeteiligung
Auf Platz zwei landete mit knapp 20 Prozent die zuletzt regierende liberale PP von Ex-Regierungschef Kiril Petkow. Er gestand die Niederlage seiner Partei ein. Als führende politische Kraft müsse GERB nun Verantwortung übernehmen und eine Regierungskoalition aufstellen.
Die drei Parteien in Petkows früherer Koalitionsregierung aus PP, Sozialisten und dem konservativ-liberal-grünen Bündnis DB kämen den Angaben zufolge zusammen auf rund 38 Prozent. Ins Parlament könnten zwischen sechs und acht Parteien einziehen. Unter ihnen ist demnach auch wieder die prorussische und nationalistische Wasraschdane (Wiedergeburt), die mit rund elf Prozent der Stimmen rechnen kann. Die amtlichen Ergebnisse werden erst in den kommenden Tagen erwartet. Vor der Wahl hatte die PP eine Koalition mit Borissows GERB ausgeschlossen. Sie warf Borissow und seiner Partei Korruption vor. Unter dem Motto „Lasst uns unsere Arbeit abschließen“will die PP den Kampf gegen die Korruption weiter fortsetzen. Die im EU-Parlament zur Europäischen Volkspartei (EVP) gehörende GERB versprach unter dem Wahlslogan „Stärker als das Chaos“, die Inflation zu zügeln, einem NATO- und EU-Kurs zu folgen und 2024 den Euro einzuführen. Es war vorerst noch offen, welche Koalitionspartner GERB finden könnte.
Nach nur sechs Monaten im Amt war die von der PP angeführte liberal-sozialistische Koalitionsregierung im Juni durch ein Misstrauensvotum gestürzt worden.
Die Sorgen der rund sieben Millionen Bulgarinnen und Bulgaren drehten sich im Wahlkampf vor allem um die Auswirkungen von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine und steigende Preise. Die Inflation lag im August im Vergleich zum Vorjahresmonat bei 17,7 Prozent. Hohe Energiepreise lassen ärmere Menschen einen kalten Winter befürchten. Das Problem der Korruption blieb eher im Hintergrund. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf war Bulgarien im vergangenen Jahr der ärmste Staat der Europäischen Union. dpa
Brasiliens Linke ist jäh aus dem Traum einer schnellen und komfortablen Rückkehr an die Macht gerissen worden. Ihr Kandidat Lula da Silva gewann eine hart umkämpfte Wahl um das Präsidentenamt zwar am Ende deutlich mit fünf Prozentpunkten Vorsprung, aber die eigentliche Nachricht ist das unerwartet starke Abschneiden des rechtsradikalen Amtsinhabers Jair Bolsonaro. Die Umfragen hatten Lulas Wahlsieg recht genau vorhergesagt, aber Bolsonaros Potenzial wurde stark unterschätzt.
Ihn hatten die Meinungsforscher bei lediglich 36 Prozent der Stimmen verortet. Am Ende stimmten für ihn mehr als 42 Prozent der 156 Millionen Wahlberechtigten. Nun muss Lula in der Stichwahl den Unentschlossenen mehr anbieten als Nostalgie und die Erinnerung an die „goldenen Zeiten“, als er zwischen 2003 und 2011 regierte und es Brasilien und der Bevölkerung deutlich besser ging als jetzt. Der 76Jährige muss vor allem sein Wirtschaftsprogramm konkretisieren und versuchen, die Menschen davon zu überzeugen, dass seine künftige Regierung nicht korrupt sein wird. Denn die Wahl hat auch gezeigt: Die Brasilianer nehmen Lula und seiner Arbeiterpartei PT noch immer die Korruption in seiner und der folgenden PT-Amtszeit unter seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff übel.
Bolsonaro, der trotz der Niederlage der eigentliche Gewinner ist, wird Lulas Hauptwählerschaft, die Armen und Bitterarmen, umgarnen. Das machte er am Wahlabend schon klar. Der politische Vorteil liegt nun überraschend beim Amtsinhaber. Zumal er in gewisser Weise Recht behielt mit der Kritik an den Meinungsumfragen, die er als gefälscht und politisch motiviert bezeichnete.
Aber wie konnten sich die traditionell zuverlässigen Umfrageinstitute so gewaltig irren? Experten gehen davon aus, dass es eine immense Zahl an schweigenden Wählern und Wählerinnen gegeben hat, die in den Umfragen ihre wahre Intention nicht preisgaben – oder sich schlicht nicht beteiligten. Vielen wird es auch unangenehm gewesen sein zuzugeben, dass sie für einen ungehobelten, abwertenden und aggressiven Politiker stimmen wollten, der weniger mit Inhalten auf sich aufmerksam machte als damit, die halbe Welt zu beleidigen und zu bedrohen.
Gründe für das gute Abschneiden von Bolsonaro
Bolsonaros Abschneiden ist umso erstaunlicher, als er nicht nur gegen Lula antrat, sondern auch die großen Medien, wichtige Politiker der liberalen Mitte und des Mitte-Rechts-Spektrums sowie sogar Teile der Wirtschaft gegen sich hatte. Man muss davon ausgehen, dass Bolsonaro eine Öffnung zur Mitte weitere Stimmen bringen könnte. Zudem muss Lula beunruhigen, dass Bolsonaros Partei PL bei den gleichzeitigen allgemeinen Wahlen viele Bewerber in Abgeordnetenhaus und Senat bringen konnte. Auch viele Gouverneure stellt seine Partei künftig. All diese Gewinner werden in den kommenden vier Wochen mächtig für Bolsonaro werben.
Ein weiterer Grund für seine hohe Stimmenzahl könnte der Vormarsch der erzkonservativen Pfingstkirchen in den vergangenen
Anhänger von Lula feiern dessen Sieg in der ersten Wahlrunde. Doch das Ergebnis fiel deutlich knapper aus als erwartet. Jahren sein, die massiv Werbung für Bolsonaro gemacht haben. Diese evangelikalen Kirchen sind inzwischen auch tief in die armen Bevölkerungsschichten eingedrungen.
Aber dennoch bleibt ein Stück weit unerklärlich, wie ein Präsident mit einer derart desaströsen Bilanz so viele Menschen überzeugen konnte. Bolsonaro hat wiederholt mit einem Staatsstreich kokettiert, er hat Richter des Obersten Gerichtshofs, Frauen, indigene Völker und Journalisten beleidigt, hat eine Kampagne gegen Corona-Impfstoffe geführt, während fast eine Dreiviertelmillion Brasilianerinnen und Brasilianer an Covid starben. Und er hat das Amazonasgebiet der Gnade von Großgrundbesitzern und Goldgräbern ausgeliefert. Insofern war der Sonntag auch ein schlechter Tag für den globalen Klimaschutz.
Ganz offensichtlich ist der aggressive Diskurs des ehemaligen Fallschirmkapitäns in den vergangenen vier Jahren tiefer in die kollektive DNA der Brasilianerinnen und Brasilianer eingesickert als gedacht. Die Saat des „Bolsonarismus“ist in der brasilianischen Gesellschaft aufgegangen. Lula warnte bereits während des Wahlkampfs: „Wir werden Bolsonaro besiegen, aber der ‚Bolsonarismus‘ wird weiterleben.“Im Moment ist nicht einmal ersteres garantiert. Das Ergebnis vom Sonntag ist somit auch ein Warnschuss für die Demokratie im größten und wichtigsten Land Lateinamerikas.
Ein tief gespaltenes Land
Mitentscheidend am 30. Oktober wird sein, ob es Bolsonaro gelingt, seine hohe Ablehnungsrate in der Bevölkerung zu verbessern. Laut Umfragen würden 52 Prozent der Brasilianer und Brasilianerinnen niemals für den Amtsinhaber stimmen. Bei Lula liegt die Ablehnungsquote bei 40 Prozent.
Hätte vor Sonntag noch jemand daran gezweifelt, dass Brasilien ein völlig gespaltenes Land ist, dem dient das Wahlergebnis als letzter Beweis. Fast hälftig stehen sich die Brasilianerinnen und Brasilianer weitgehend unversöhnlich, mit zwei völlig diametralen Visionen ihres Landes, gegenüber. Zudem ist Brasilien regional gespalten. Der PT-Herausforderer siegte im armen Nordosten und auch in weiten Teilen des Amazonas. Aber im europäisch geprägten Süden und vor allem im Industrieund Finanzzentrum São Paulo sowie in der Metropolregion Rio de Janeiro gewann Bolsonaro. Auch in den agrarisch dominierten Staaten hatte der Präsident ein Heimspiel.
Die einzig gute Nachricht des Wahltages ist, dass es erstens weitgehend ruhig blieb und dass zweitens Bolsonaro nicht die Legitimität des Ergebnisses infrage stellte. Vielmehr zog er wie ein ganz normaler Politiker seine Schlüsse aus den Resultaten. Nach einem langen und erbittert geführten Wahlkampf, der von schwerer politischer Gewalt geprägt war, ist das immerhin ein kleiner Gewinn für die Demokratie.
Experten gehen davon aus, dass es eine immense Zahl an schweigenden Wählern und Wählerinnen gegeben hat, die in den Umfragen ihre wahre Intention nicht preisgaben.