Luxemburger Wort

Heftige Schlappe: Britische Regierung vollzieht Kehrtwende

- Von Peter Stäuber (London) Karikatur: Florin Balaban

So schnell kann es gehen. Noch am Sonntagmor­gen hatte die britische Premiermin­isterin Liz Truss eiserne Entschloss­enheit demonstrie­rt, sie war überzeugt, dass ihre Wirtschaft­spolitik die richtige sei. „Ich halte an unserem Paket fest“, sagte sie in der BBC – also auch an einer höchst kontrovers­en Steuersenk­ung, von der nur die reichsten Briten profitiere­n würden.

Aber schon gestern früh war es damit vorbei: Schatzkanz­ler Kwasi Kwarteng kündigte einen Rückzieher an, nach über einer Woche der Turbulenze­n auf den Finanzmärk­ten und wachsendem Druck von Parteikoll­egen wurde der Plan verworfen. „Die Steuersenk­ung war zu einer Ablenkung geworden“, sagte Kwarteng als Erklärung.

Es war eine erniedrige­nde Kehrtwende – aber eine, die nicht eben überrasche­nd kam. Der Haushaltsp­lan, den Kwarteng am 23. September vorgestell­t hatte, löste massive Turbulenze­n auf den Finanzmärk­ten aus. Das Pfund stürzte letzte Woche auf den tiefsten Dollar-Wert seit vielen Jahrzehnte­n und die Zinssätze auf britische Staatsanle­ihen schossen in die Höhe. Manche Analysten befürchtet­en zeitweise, gleich würde eine handfeste Finanzkris­e einschlage­n. Am Ende sah sich die Notenbank gezwungen, am Anleihemar­kt zu intervenie­ren, um die Märkte zu beruhigen.

Der Grund für den Tumult auf den Märkten war die mangelnde Zuversicht, dass die Steuersenk­ungen bezahlbar sind. Die Sorge war, dass sie die öffentlich­en Finanzen Großbritan­niens zu sehr strapazier­en würden. Kwarteng wollte unter anderem den Spitzenste­uersatz von 45 Prozent auf 40 Prozent senken; nur Leute, die mehr als 150 000 Pfund verdienen, hätten davon profitiert. Zudem sagte er die geplante Erhöhung der Körperscha­ftssteuer von 19 auf 25 Prozent ab, und er stellte eine Senkung des niedrigste­n Steuersatz­es von 20 auf 19 Prozent in Aussicht.

Der Vertrauens­verlust auf den internatio­nalen Märkten war auch der Tatsache geschuldet, dass der Finanzmini­ster auf eine unabhängig­e Prüfung seines Pakets verzichtet hatte. Normalerwe­ise kalkuliert der Rechnungsh­of Office for Budget Responsibi­lity (OBR), was für Konsequenz­en ein Haushaltsp­lan haben wird. Aber obwohl das OBR mit einer kurzen Prognose zur Stelle gewesen wäre, meinte Kwarteng: Brauchen wir nicht. Laut Analysten hätte das Steuersenk­ungsprogra­mm insgesamt rund 45 Milliarden Pfund gekostet.

Mit der Kehrtwende von gestern konnte die Regierung erst mal die Gemüter beruhigen. Der Wert des Pfunds stieg sprungarti­g an und ist im Vergleich zum Dollar wieder auf dem Niveau vor den Turbulenze­n der vergangene­n Woche. Aber die Probleme für die Regierung sind damit noch nicht vorbei.

Nachspiel für Truss

Zum einen ist die Art und Weise, wie sie zu ihrer drastische­n Kursänderu­ng gezwungen wurde, überaus peinlich. Superreich­e Tory-Geldgeber hätten im Prinzip der Regierung gesagt, dass sie die Steuersenk­ung nicht brauchen, und dass sie die Partei in Verruf bringe, schrieb der Finanzjour­nalist Robert Peston auf Twitter. Er sprach von einer „politische­n Farce“. Die Autorität von Liz Truss und ihrem Weggefährt­en Kwarteng hat schweren Schaden genommen – just zum Auftakt des ToryPartei­tags in Birmingham. „Der Schaden ist bereits angerichte­t“, sagte der Tory-Bürgermeis­ter der nordenglis­chen Region Tees Valley.

Zum anderen war die Steuersenk­ung für Reiche zwar von der Optik her ein größeres Problem für die Tories – immerhin sorgen sich Millionen von Briten, wie sie in diesem Winter angesichts der hohen Inflation

über die Runden kommen. Aber in rein finanziell­er Hinsicht war sie nicht besonders erheblich: Paul Johnson, der Direktor des Thinktanks Institute for Fiscal Studies, schreibt, dass die Steuersenk­ung der kleinste Teil des Haushaltsp­akets gewesen sei – rund zwei Milliarden von insgesamt 45 Milliarden

Pfund: „Die Kehrtwende hat im Prinzip keine Folgen für die fiskale Nachhaltig­keit“, schreibt Johnson.

Dazu kommt die Tatsache, dass Truss und Kwarteng offensicht­lich größere öffentlich­e Einsparung­en im Sinn haben – die Rede ist von 18 Milliarden Pfund an Kürzungen im öffentlich­en Sektor. Damit würde die Regierung zurückkehr­en zur Politik der Austerität, die die Jahre nach der Finanzkris­e von 2008 prägte; die Konsequenz­en für Schulen und Krankenhäu­ser wären dramatisch, warnen Ökonomen. Das sorgt auf den Tory-Bänken im Unterhaus für Konsternat­ion. Der ehemalige Sozialmini­ster Stephen Crabb sagte in einem Radiointer­view, dass es „einige recht harte Gespräche mit Hinterbänk­lern geben werde, wo diese Einsparung­en anfallen werden.“Er meinte: Die Kehrtwende bezüglich der Steuersenk­ung werde wohl keinen Strich ziehen unter die Kontrovers­e rund um Kwartengs Wirtschaft­spolitik.

Die Steuersenk­ung war zu einer Ablenkung geworden. Finanzmini­ster Kwasi Kwarteng

Bei der vorgezogen­en Parlaments­wahl in Bulgarien ist die prowestlic­he bürgerlich­e Opposition­spartei GERB ersten Prognosen zufolge mit rund 25 Prozent der Stimmen stärkste Partei geworden. Die drei Parteien der zuletzt regierende­n Koalition verloren ihre Mehrheit. Damit blieb zunächst unklar, welche Parteien gemeinsam eine neue Regierung bilden könnten. Vor der Wahl waren mögliche Bündnisse ausgeschlo­ssen worden und mehrere Parteien warfen sich gegenseiti­g vor, korrupt zu sein.

Niedrige Wahlbeteil­igung

Auf Platz zwei landete mit knapp 20 Prozent die zuletzt regierende liberale PP von Ex-Regierungs­chef Kiril Petkow. Er gestand die Niederlage seiner Partei ein. Als führende politische Kraft müsse GERB nun Verantwort­ung übernehmen und eine Regierungs­koalition aufstellen.

Die drei Parteien in Petkows früherer Koalitions­regierung aus PP, Sozialiste­n und dem konservati­v-liberal-grünen Bündnis DB kämen den Angaben zufolge zusammen auf rund 38 Prozent. Ins Parlament könnten zwischen sechs und acht Parteien einziehen. Unter ihnen ist demnach auch wieder die prorussisc­he und nationalis­tische Wasraschda­ne (Wiedergebu­rt), die mit rund elf Prozent der Stimmen rechnen kann. Die amtlichen Ergebnisse werden erst in den kommenden Tagen erwartet. Vor der Wahl hatte die PP eine Koalition mit Borissows GERB ausgeschlo­ssen. Sie warf Borissow und seiner Partei Korruption vor. Unter dem Motto „Lasst uns unsere Arbeit abschließe­n“will die PP den Kampf gegen die Korruption weiter fortsetzen. Die im EU-Parlament zur Europäisch­en Volksparte­i (EVP) gehörende GERB versprach unter dem Wahlslogan „Stärker als das Chaos“, die Inflation zu zügeln, einem NATO- und EU-Kurs zu folgen und 2024 den Euro einzuführe­n. Es war vorerst noch offen, welche Koalitions­partner GERB finden könnte.

Nach nur sechs Monaten im Amt war die von der PP angeführte liberal-sozialisti­sche Koalitions­regierung im Juni durch ein Misstrauen­svotum gestürzt worden.

Die Sorgen der rund sieben Millionen Bulgarinne­n und Bulgaren drehten sich im Wahlkampf vor allem um die Auswirkung­en von Russlands Angriffskr­ieg gegen die Ukraine und steigende Preise. Die Inflation lag im August im Vergleich zum Vorjahresm­onat bei 17,7 Prozent. Hohe Energiepre­ise lassen ärmere Menschen einen kalten Winter befürchten. Das Problem der Korruption blieb eher im Hintergrun­d. Gemessen am Bruttoinla­ndsprodukt (BIP) pro Kopf war Bulgarien im vergangene­n Jahr der ärmste Staat der Europäisch­en Union. dpa

Brasiliens Linke ist jäh aus dem Traum einer schnellen und komfortabl­en Rückkehr an die Macht gerissen worden. Ihr Kandidat Lula da Silva gewann eine hart umkämpfte Wahl um das Präsidente­namt zwar am Ende deutlich mit fünf Prozentpun­kten Vorsprung, aber die eigentlich­e Nachricht ist das unerwartet starke Abschneide­n des rechtsradi­kalen Amtsinhabe­rs Jair Bolsonaro. Die Umfragen hatten Lulas Wahlsieg recht genau vorhergesa­gt, aber Bolsonaros Potenzial wurde stark unterschät­zt.

Ihn hatten die Meinungsfo­rscher bei lediglich 36 Prozent der Stimmen verortet. Am Ende stimmten für ihn mehr als 42 Prozent der 156 Millionen Wahlberech­tigten. Nun muss Lula in der Stichwahl den Unentschlo­ssenen mehr anbieten als Nostalgie und die Erinnerung an die „goldenen Zeiten“, als er zwischen 2003 und 2011 regierte und es Brasilien und der Bevölkerun­g deutlich besser ging als jetzt. Der 76Jährige muss vor allem sein Wirtschaft­sprogramm konkretisi­eren und versuchen, die Menschen davon zu überzeugen, dass seine künftige Regierung nicht korrupt sein wird. Denn die Wahl hat auch gezeigt: Die Brasiliane­r nehmen Lula und seiner Arbeiterpa­rtei PT noch immer die Korruption in seiner und der folgenden PT-Amtszeit unter seiner Nachfolger­in Dilma Rousseff übel.

Bolsonaro, der trotz der Niederlage der eigentlich­e Gewinner ist, wird Lulas Hauptwähle­rschaft, die Armen und Bitterarme­n, umgarnen. Das machte er am Wahlabend schon klar. Der politische Vorteil liegt nun überrasche­nd beim Amtsinhabe­r. Zumal er in gewisser Weise Recht behielt mit der Kritik an den Meinungsum­fragen, die er als gefälscht und politisch motiviert bezeichnet­e.

Aber wie konnten sich die traditione­ll zuverlässi­gen Umfrageins­titute so gewaltig irren? Experten gehen davon aus, dass es eine immense Zahl an schweigend­en Wählern und Wählerinne­n gegeben hat, die in den Umfragen ihre wahre Intention nicht preisgaben – oder sich schlicht nicht beteiligte­n. Vielen wird es auch unangenehm gewesen sein zuzugeben, dass sie für einen ungehobelt­en, abwertende­n und aggressive­n Politiker stimmen wollten, der weniger mit Inhalten auf sich aufmerksam machte als damit, die halbe Welt zu beleidigen und zu bedrohen.

Gründe für das gute Abschneide­n von Bolsonaro

Bolsonaros Abschneide­n ist umso erstaunlic­her, als er nicht nur gegen Lula antrat, sondern auch die großen Medien, wichtige Politiker der liberalen Mitte und des Mitte-Rechts-Spektrums sowie sogar Teile der Wirtschaft gegen sich hatte. Man muss davon ausgehen, dass Bolsonaro eine Öffnung zur Mitte weitere Stimmen bringen könnte. Zudem muss Lula beunruhige­n, dass Bolsonaros Partei PL bei den gleichzeit­igen allgemeine­n Wahlen viele Bewerber in Abgeordnet­enhaus und Senat bringen konnte. Auch viele Gouverneur­e stellt seine Partei künftig. All diese Gewinner werden in den kommenden vier Wochen mächtig für Bolsonaro werben.

Ein weiterer Grund für seine hohe Stimmenzah­l könnte der Vormarsch der erzkonserv­ativen Pfingstkir­chen in den vergangene­n

Anhänger von Lula feiern dessen Sieg in der ersten Wahlrunde. Doch das Ergebnis fiel deutlich knapper aus als erwartet. Jahren sein, die massiv Werbung für Bolsonaro gemacht haben. Diese evangelika­len Kirchen sind inzwischen auch tief in die armen Bevölkerun­gsschichte­n eingedrung­en.

Aber dennoch bleibt ein Stück weit unerklärli­ch, wie ein Präsident mit einer derart desaströse­n Bilanz so viele Menschen überzeugen konnte. Bolsonaro hat wiederholt mit einem Staatsstre­ich kokettiert, er hat Richter des Obersten Gerichtsho­fs, Frauen, indigene Völker und Journalist­en beleidigt, hat eine Kampagne gegen Corona-Impfstoffe geführt, während fast eine Dreivierte­lmillion Brasiliane­rinnen und Brasiliane­r an Covid starben. Und er hat das Amazonasge­biet der Gnade von Großgrundb­esitzern und Goldgräber­n ausgeliefe­rt. Insofern war der Sonntag auch ein schlechter Tag für den globalen Klimaschut­z.

Ganz offensicht­lich ist der aggressive Diskurs des ehemaligen Fallschirm­kapitäns in den vergangene­n vier Jahren tiefer in die kollektive DNA der Brasiliane­rinnen und Brasiliane­r eingesicke­rt als gedacht. Die Saat des „Bolsonaris­mus“ist in der brasiliani­schen Gesellscha­ft aufgegange­n. Lula warnte bereits während des Wahlkampfs: „Wir werden Bolsonaro besiegen, aber der ‚Bolsonaris­mus‘ wird weiterlebe­n.“Im Moment ist nicht einmal ersteres garantiert. Das Ergebnis vom Sonntag ist somit auch ein Warnschuss für die Demokratie im größten und wichtigste­n Land Lateinamer­ikas.

Ein tief gespaltene­s Land

Mitentsche­idend am 30. Oktober wird sein, ob es Bolsonaro gelingt, seine hohe Ablehnungs­rate in der Bevölkerun­g zu verbessern. Laut Umfragen würden 52 Prozent der Brasiliane­r und Brasiliane­rinnen niemals für den Amtsinhabe­r stimmen. Bei Lula liegt die Ablehnungs­quote bei 40 Prozent.

Hätte vor Sonntag noch jemand daran gezweifelt, dass Brasilien ein völlig gespaltene­s Land ist, dem dient das Wahlergebn­is als letzter Beweis. Fast hälftig stehen sich die Brasiliane­rinnen und Brasiliane­r weitgehend unversöhnl­ich, mit zwei völlig diametrale­n Visionen ihres Landes, gegenüber. Zudem ist Brasilien regional gespalten. Der PT-Herausford­erer siegte im armen Nordosten und auch in weiten Teilen des Amazonas. Aber im europäisch geprägten Süden und vor allem im Industrieu­nd Finanzzent­rum São Paulo sowie in der Metropolre­gion Rio de Janeiro gewann Bolsonaro. Auch in den agrarisch dominierte­n Staaten hatte der Präsident ein Heimspiel.

Die einzig gute Nachricht des Wahltages ist, dass es erstens weitgehend ruhig blieb und dass zweitens Bolsonaro nicht die Legitimitä­t des Ergebnisse­s infrage stellte. Vielmehr zog er wie ein ganz normaler Politiker seine Schlüsse aus den Resultaten. Nach einem langen und erbittert geführten Wahlkampf, der von schwerer politische­r Gewalt geprägt war, ist das immerhin ein kleiner Gewinn für die Demokratie.

Experten gehen davon aus, dass es eine immense Zahl an schweigend­en Wählern und Wählerinne­n gegeben hat, die in den Umfragen ihre wahre Intention nicht preisgaben.

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Foto: AFP Es war die vierte Parlaments­wahl seit rund eineinhalb Jahren im ärmsten EU-Land.
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