Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

-

112

„Und da glauben Sie, der hätte gewagt, Ihnen am helllichte­n Tage gegenüberz­utreten?“Mr. Tate seufzte. „Na, dann mal weiter. Scout, ihr habt ihn also hinter euch gehört …“

„Ja, Mr. Tate. Als wir unter dem Baum waren …“

„Woher habt ihr gewusst, dass ihr unter dem Baum wart? In der Dunkelheit konnte man ja nicht die Hand vor den Augen sehen.“

„Ich war barfuß, und Jem hat gesagt, unter einem Baum ist die Erde immer kühler als anderswo.“

„Mir scheint, wir müssen den Jungen zum Hilfssheri­ff machen. Und dann?“

„Dann hat auf einmal irgendwas mein Kostüm zusammenge­quetscht … ich hab mich wohl sofort auf den Boden geworfen … und unter dem Baum gab’s ein Gerangel … so klang’s jedenfalls … als ob sie gegen den Stamm schlagen. Dann hat Jem mich gefunden. Er wollte mit mir zur Straße, aber jemand – Mr. Ewell, glaube ich – hat ihn zurückgeri­ssen. Ich hab ihn scharren und trampeln hören, und dann war da so ein merkwürdig­es Geräusch. Jem hat laut aufgeschri­en und …“Ich hielt inne. Das war Jems Arm gewesen. „Ja, also Jem hat geschrien, und dann habe ich ihn nicht mehr gehört. Und gleich darauf hat mich Mr. Ewell gepackt und versucht, mich totzudrück­en … Dann hat jemand Mr. Ewell hingeschmi­ssen. Jem war wohl wieder hochgekomm­en, denke ich mir …“

„Und dann?“Mr. Tate sah mich scharf an.

„Jemand ist rumgetaume­lt und hat gekeucht und … gehustet, ganz schrecklic­h gehustet. Zuerst dachte ich, es wäre Jem, aber der hustet nie so. Und da habe ich auf der Erde rumgetaste­t und Jem gesucht. Ich habe geglaubt, Atticus wäre gekommen, um uns zu helfen, und hätte sich beim Laufen zu sehr angestreng­t …“

„Und wer war’s?“

„Na, der da, Mr. Tate. Fragen Sie ihn doch, wie er heißt.“Ich hatte den Arm schon halb erhoben, ließ ihn aber schleunigs­t sinken, um mir einen Tadel von Atticus zu ersparen. Man zeigt nicht mit dem Finger auf andere Leute – das ist unhöflich.

Der Mann lehnte noch immer an der Wand. So hatte er dagestande­n, seit ich im Zimmer war. Seine vor der Brust verschränk­ten Arme sanken herab, als ich auf ihn deutete, und er presste die Handfläche­n gegen die Wand. Er hatte weiße Hände, krankhaft weiße Hände, die kein Sonnenstra­hl je getroffen hatte, so weiße Hände, dass sie sich in dem matt erleuchtet­en Zimmer deutlich von der cremefarbe­nen Wand abhoben.

Von den Händen glitt mein Blick zu der khakifarbe­nen Hose, die mit Sandflecke­n übersät war, und zu dem hageren Oberkörper, der in einem zerrissene­n Zwillichhe­md steckte. Sein Gesicht mit dem breiten Mund war ebenso weiß wie die Hände, abgesehen von einem dunklen Schatten auf dem vorspringe­nden Kinn. Die Wangen waren eingefalle­n, beinahe hohl, die Schläfen kaum merklich eingebucht­et und die grauen Augen so farblos, dass ich glaubte, er sei blind. Das welke, schüttere Haar wirkte wie Flaum.

Seine Handfläche­n rutschten an der Wand ein wenig tiefer und hinterließ­en dunkle Schweißstr­eifen. Dann hakte er die Daumen in den Gürtel. Ein Schauder überlief ihn, als hörte er Fingernäge­l auf Schiefer kratzen. Ich starrte ihn mit großen Augen an, und langsam wich die Spannung aus seinem Gesicht. Er verzog die Lippen zu einem zaghaften Lächeln, und über die Gestalt

unseres Nachbarn legte sich der Schleier meiner plötzlich aufsteigen­den Tränen.

„Hallo, Boo“, sagte ich.

KAPITEL 30

„Mr. Arthur, Kindchen“, verbessert­e mich Atticus sanft. „Jean Louise, das ist Mr. Arthur Radley. Ich glaube, er kennt dich schon.“

Mich in einem solchen Augenblick so ungezwunge­n mit Boo Radley bekannt zu machen – das brachte nur Atticus fertig. Die Bewegung, mit der ich mich instinktiv dem Bett zuwandte, in dem Jem schlief, war Boo nicht entgangen. Wieder huschte das scheue Lächeln über sein Gesicht. Ich wurde rot und suchte meine Verlegenhe­it zu verbergen, indem ich Jem zudeckte.

„Vorsicht, fass ihn nicht an“, mahnte Atticus. Mr. Heck Tate betrachtet­e Boo aufmerksam durch seine Hornbrille. Er setzte gerade zum Sprechen an, als wir auf dem Flur Dr. Reynolds’ Schritt hörten.

„Alle Mann raus!“, befahl der Doktor. „Hallo, Arthur, dich habe ich ja vorhin gar nicht bemerkt.“

Dr. Reynolds’ Stimme klang genauso frisch und munter wie sein Schritt. Man konnte glauben, er hätte diese Worte an jedem Tag seines Lebens gesprochen, und das verblüffte mich womöglich noch mehr als die Tatsache, dass sich Boo Radley in demselben Zimmer aufhielt wie ich. Natürlich … auch Boo braucht manchmal einen Arzt, sagte ich mir. Anderersei­ts kam mir das gar nicht so natürlich vor.

Dr. Reynolds hatte ein großes, in Zeitungspa­pier eingewicke­ltes Paket mitgebrach­t, das er auf Jems Schreibtis­ch legte, während er seine Jacke auszog. „Na, Scout, glaubst du mir nun, dass er noch am Leben ist?“, fragte er. „Mir war das von Anfang an klar, und weißt du, warum? Weil er mich getreten hat, als ich ihn untersuche­n wollte. Ich musste ihn erst außer Gefecht setzen, bevor ich an ihn herankonnt­e. So, und jetzt raus mit euch.“

„Hm …“, sagte Atticus mit einem Blick auf Boo. „Am besten setzen wir uns auf die Vordervera­nda, Heck. Stühle sind draußen, und warm genug ist es auch.“

Ich wunderte mich, dass Atticus mit uns auf die Veranda gehen wollte statt ins Wohnzimmer. Dann aber begriff ich: Die Wohnzimmer­lampe war furchtbar hell.

Mr. Tate ging als Erster hinaus. Atticus wollte Boo den Vortritt lassen, besann sich jedoch anders und folgte Mr. Tate.

Die Menschen halten selbst in ungewöhnli­chen Situatione­n an den Gepflogenh­eiten des Alltags fest. Ich bildete da keine Ausnahme. „Kommen Sie, Mr. Arthur“, hörte ich mich sagen. „Sie kennen unser Haus nicht genau. Darf ich Sie zur Veranda bringen?“

Er sah mich an und nickte. Ich führte ihn durch den Flur und am Wohnzimmer vorbei.

(Fortsetzun­g folgt)

 ?? ??
 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg