Lauter Leichen
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So trat Elvis als Elvis vor einem polnischen Autoschieberring auf, vor russischen Waffenhändlern, in Bordellen, vor korrupten Zollbeamten und vor windigen halbseidenen Diamantenhändlern. Vielfach schaute die Polizei vorbei und fragte nach, wie es denn dazu komme, dass er pro Auftritt mehrere Tausend Mark verdiene, und erhielt als Antwort jedes Mal einen Stand-up-Gratisgig.
„Es liegt am Hüftschwung!“, rief mein Onkel jedes Mal, während er seinen in der Tat spektakulären Hüftschwung vorführte und alsdann den misstrauischen Polizeibeamten singend anschmachtete. „Love me tender, love me sweet …“
Mein Onkel Elvis hatte sich also in die Lage versetzt, eine Familie zu ernähren, und mit seiner Frau Maria Michael gezeugt. Michael, hatte mein Onkel meiner Mutter stolz berichtet, werde keinen Gesangsunterricht brauchen: Er klinge bereits jetzt wie der King, und die edlen Gesichtszüge seines Vaters habe er auch geerbt. Dergestalt beschenkt, verzichteten Elvis und Maria hoffnungsvoll ein weiteres Mal auf Kondome. Was Onkel Elvis als Resultat erwartete, war nicht ganz klar, Tante Maria spekulierte jedenfalls auf Marilyn Monroe. Das
Kalkül ging jedoch nicht auf. Oma Frieda, die bei der Geburt zugegen war, erzählte meiner Mutter später, dass die entsetzte Hebamme die Eltern mit folgenden Worten auf ihren Nachwuchs vorbereitet hatte: „Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem neugeborenen Äffchen!“
„Äffchen“war allerdings kein liebevolles Kosewort, sondern eine Zustandsbeschreibung gewesen: Das Baby trug ein Kleid aus schwarzem Fell. Tante Maria weinte – es wäre Blasphemie gewesen, hätte sie ihre Tochter Marilyn genannt. Meine Mutter schlug „Cheetah“vor, angelehnt an das Schimpansenmädchen in den Tarzan-Filmen. Leider waren weder Tante Maria noch Onkel Elvis filmisch besonders bewandert. Tante Maria fand, dass Cheetah hübsch klinge und irgendwie auch zu dem schwarzen Fellknäuel an ihrer Brust passe. Daher nannten sie ihre Tochter Cheetah Priscilla, Cheetah als Rufname und Priscilla als Andenken an den King, dessen Ehefrau diesen Namen getragen hatte. Wegen dieses Schocks verweigerte Tante Maria fortan die Empfängnis, doch irgendwann erwuchs aus dem Fellkokon ein recht süßes Mädchen, und das Projekt Simon erhielt seinen Startschuss.
Die erste Erinnerung, die ich an meinen Cousin habe, ist, dass er besser lesen konnte als ich, obwohl ich drei Jahre älter bin. Wir hockten beide auf Karins ausladendem Schoß, ich als großes Kindergartenkind, das bald zur Schule
gehen durfte, Simon als Simon, denn wie ein Kind hatte er eigentlich nie ausgesehen. Karin blätterte in einem Leselernbuch, deutete auf das große „A“und sagte zu mir: „Aaaaa wie Aaaaarm.“
„Oder wie Affe“, sagte Simon. Er war drei Jahre alt.
„Ja, mein Schatz“, erwiderte Karin und zauste zärtlich Simons blonden Schopf, „du kannst gut nachplappern.“
„Plappern“, sagte Simon. „P – L – A – P – P – E – R – N.“
Ich nahm an, Simon habe wahllos Buchstaben aneinandergereiht, und lachte. Karin lachte nicht. Sie schob mich vom bequemen Beinhocker, griff sich den ernst dreinschauenden Simon und fragte ihn, ob er denn auch wisse, wie man „Hand“buchstabiere. Simon runzelte die zarte Stirn, er schien zu denken: Karin ist schon hundert Jahre alt, kann aber die simpelsten Wörter nicht buchstabieren!
Gnädig half er ihr also aus und sagte: „H – A – N – D.“
Karin hielt ihm ihr Taschenbuch vor die Nase, tippte auf den Titel und befahl: „Lies!“
„Gefährliche Leidenschaft“, las Simon holprig vor („Gef-är-li-che Le-iden-schaft“) und rülpste. Der Bananenbrei, den er so sehr liebte, verursachte regelmäßig Verdauungsprobleme.
Karin nickte. „So gut wie viele Drittklässler“, urteilte sie, dann setzte sie Simon neben mir ab und marschierte zum Telefon, um Tante Maria einzubestellen.
Weil Simons Intelligenz in der Familie meines Onkels eher als schräge Marotte, die man besser ignorierte, abgetan worden war, übernahm Karin fortan das Regiment über Simons Ausbildung. Sie versuchte, ihn sofort einzuschulen, was gründlich misslang: Die Schulbehörde hielt ihn für sozial zu unreif. Meine Mutter schlug vor, Simon als Forschungsprojekt an der sozialpädagogischen Fakultät der Universität Hamburg vorzustellen, worauf in Karin sich das Kind schnappte und es mitten in einer Vorlesung auf dem Tisch des Professors aussetzte. Sie zerrte dem verblüfften Dozenten das Lehrbuch aus der Hand, drückte es ihrem dreijährigen Sonnenschein in die verschwitzten Händchen und bat ihn, den Herrschaften doch bitte den ersten Absatz vorzulesen. Bei den
Fremdwörtern hakte es ein wenig, doch im Großen und Ganzen verstand man das Gelesene. Als Simon die Passage beendet hatte, machte er Karin auf seine vollgeschissene Windel aufmerksam. Die Studenten bekamen das Schließmuskelproblem erstaunlich schnell in den Griff : Sie erklärten dem Dreijährigen die Physiologie des Muskels und gaben ihm eine Extravorlesung in Hygiene. Am nächsten Tag war Simon stubenrein. Tante Maria war begeistert, Onkel Elvis hatte Angst, sein Junge könnte eine Schwuchtel werden, Michael erzählte überall, dass er R2D2 zum Bruder habe, und Cheetah Priscilla war beleidigt, denn ihr peinlicher kleiner Bruder erhielt urplötzlich mehr Aufmerksamkeit als sie.
Sein Intelligenztest würde später die Ziffernfolge 173 auswerfen.
Als er zehn Jahre alt war und die achte Klasse eines Gymnasiums besuchte, gewann er ein Stipendium für ein naturwissenschaftliches Sommercamp. Er musste sich zwischen sechs Kursangeboten entscheiden – eine Aufgabe, die ihn verzweifeln ließ. Sechs Kurse – und alle waren gleich interessant. Dennoch durfte er nur einen wählen – aber wie sollte er herausfinden, welcher Kurs der beste für ihn wäre?
(Fortsetzung folgt)