Jeder Krieg muss einmal enden
Die Ukraine benötigt unsere Solidarität, auch für mehr Realismus
„Krieg ist ein höchst unvorhersehbares Geschäft“meint der britische Journalist und Orwell-Preisträger Anatol Lieven. Effektiv gehen Kriege selten so aus, wie sie in den militärischen Planungsstäben der Staaten konzipiert wurden. Nicht immer ist das auf dem Papier stärkste Land automatisch der Sieger.
Sonst könnte niemand den USA etwas anhaben. Die sich mit einem jährlichen Militärbudget von über 811 Milliarden Dollar die weltweit höchsten Rüstungsausgaben leisten. Dieses US-Budget übersteigt die gesamten militärischen Ausgaben der zehn nachfolgenden Staaten. Darunter China mit 250 Milliarden Dollar und Russland mit 63 Milliarden Dollar. Allein die USA und ihre NATO-Partner bestreiten alljährlich weit über die Hälfte der weltweiten Militärausgaben (Zahlen laut Pascal Boniface, „L’Année Stratégique 2023“).
Dennoch hat dieser militärische Gigant letztes Jahr den Kampf gegen die Taliban in Afghanistan aufgegeben. Die Amerikaner wurden nicht besiegt. Sie zogen sich im Mai 2021 zurück. Vorher schon, 1989, setzte sich die „glorreiche“Rote Armee der damaligen Sowjetunion nach zehn Jahren erfolgloser Besetzung Afghanistans ab. Laut Thomas Gomart („L'Affolement du Monde“) hatten die USA auf dem Höhepunkt ihrer militärischen Aktion gegen die Taliban jede Woche zwei Milliarden Dollar ausgegeben. Das jährliche Militärbudget der Taliban wurde auf 20 Millionen Dollar geschätzt.
Die von George W. Bush mit Unterstützung von Tony Blair, José Maria Aznar und Co gewollte Eliminierung von Saddam Hussein und seinen Massenvernichtungswaffen führte wegen der totalen Luftüberlegenheit der Amerikaner zu einem schnellen „Sieg“. Doch wurden weder die gesuchten Waffen gefunden, noch der Irak befriedet. Der von Nicolas Sarkozy mithilfe der Amerikaner betriebene Sturz des Gaddafi-Regimes in Libyen führte ebenfalls nicht zur Stabilisierung des Landes. Dessen ehemaligen Waffenarsenale weiterhin „Al-Kaida“und die Rebellen in Nigeria wie im Sahel alimentieren.
Der Kosovo-Krieg gegen Serbien endete nach 79 Tagen und 19.150 Flug-Einsätzen der Amerikaner und anderer NATO-Staaten. Serbien, so groß wie Österreich und mit weniger als sieben Millionen Menschen, war den Bomben der NATO-Übermacht nicht gewachsen. So kam es ohne UNO-Mandat zur völkerrechtlich nicht lupenreinen Abtrennung des Kosovo. Von einer totalen Niederlage der Serben ist dennoch keine Rede. Welche die Abtrennung ihrer „historischen“Provinz weiterhin nicht anerkennen.
Russlands falsche Kalkulation
Vor diesen Hintergründen muss der russische Krieg in der Ukraine beurteilt werden. Als Putin am 24. Februar 2022 seine „Spezial-Operation“startete, waren im Westen nicht wenige der Ansicht, es käme zu einem schnellen Sieg der russischen Großmacht. Die Russen hatten in wenigen Tagen die gesamte ukrainische Luftwaffe zerstört. Ihre Panzerkolonnen drangen Richtung Kiew vor. Die Amerikaner boten damals Präsident Selenskyj an, ihn in Sicherheit zu bringen. Woraufhin der begnadete Selbstdarsteller geschichtsreif erwiderte: „Ich benötige kein Taxi, ich benötige Waffen.“
Putin rechnete mit einem schnellen Sturz Selenskyjs, um ihn durch einen Moskau genehmen Statthalter zu ersetzen. Doch obwohl die Ukrainer zu über einem Drittel aus ethnischen Russen bestehen, erfolgte ein unerwartetes Zusammenstehen des angegriffenen Volkes. Das mit starker Motivation und zum Teil unkonventionellen Mitteln gegen die russischen Panzerverbände vorging und deren logistische Nachschubketten zerstörte. Jedenfalls mussten die russischen Truppen von der Einnahme der historischen Stadt Kiew abrücken. Sie konzentrierten sich auf die Eroberung des gesamten Donbass und der Küstenstädte am Schwarzen Meer.
Die sich steigernden Lieferungen modernster Waffensysteme durch die USA und die NATO-Staaten erlauben nunmehr der ukrainischen Armee, bereits verlorenes Terrain zurückzugewinnen.
Das Kriegsgeschehen belegt die Überlegenheit westlicher Waffensysteme. Allein die USA haben bislang der Ukraine Waffen in einem Gesamtwert geliefert, der höher ist als das Jahresbudget der russischen Armee. Dazu kommen modernste Waffen aus Deutschland, Großbritannien, Frankreich und selbst der Türkei. Wobei letzterer NATO-Staat eine etwas zwielichtige Rolle spielt.
Zu vollmundig?
Jedenfalls fühlen sich Selenskyj und seine Mitstreiter nunmehr stark genug, um einen totalen Sieg gegen die Russen anzustreben. Diese selbst aus der 2014 annektierten Krim zu vertreiben.
Bei aller notwendigen Solidarität mit dem tief geprüften ukrainischen Volk und seinem telegenen Präsidenten ist ein solches Ansinnen recht vollmundig.
Es setzt die totale Niederlage der Russischen Föderation voraus. Immerhin der größte Flächenstaat der Welt. Dessen 17 Millionen Quadratkilometer wohl kaum mit militärischen Mitteln ganz zu besetzen sind. Vor allem sind die Russen die zweitgrößte Nuklearmacht. Putin droht regelmäßig mit seinen taktischen atomaren Waffen. Die er sehr wahrscheinlich einsetzen würde, ginge es ihm ernsthaft an den Kragen.
Dazu gehört die Rückeroberung der Krim. Die historisch gesehen länger eine russische Halbinsel als ukrainisches Land war. Erst vor einem halben Jahrhundert gliederte Chruschtschow durch einen in der damaligen Sowjetunion politisch wenig relevantem Akt die russische Krim in die ukrainische Teilrepublik ein.
Als Putin 2014 die Krim annektierte, stieß er offensichtlich bei den zu über 80 Prozent russischstämmigen Einwohnern auf Zustimmung. Die dort lebenden Krim-Tataren mögen zwar keine Russen-Freunde sein. Sind aber auch keine Ukrainer. Mit der Annektierung wollte Putin den Hafen Sewastopol sichern. Eine russische Enklave innerhalb der damaligen Ukraine. Halb so groß wie Luxemburg, 2014 von 400 000 Russen bewohnt. Darunter die Soldaten und Matrosen der russischen Schwarzmeer-Flotte. Immerhin der einzige das ganze Jahr über eisfreie Militärhafen Russlands. Deshalb Stützpunkt für einen großen Teil der russischen nuklearen Unterseeboote.
Nur wer unfähig ist, sich in die Lage eines Gegners zu versetzen, wird nicht verstehen, dass Moskau eine Aufgabe von Sewastopol nie zulassen wird. Sollte die Ukraine, was das deklarierte Ziel von Selenskyj ist, einmal Mitglied der NATO werden, läge nach einer Rückeroberung der Krim der wichtigste eisfreie Militärhafen Russlands
inmitten von NATO-Territorium. Aus russischer Sicht inakzeptabel.
Es ist bezeichnend, dass Putin 2014 die Krim sofort annektierte. Nicht aber die drei selbst proklamierten „russischen Republiken“im Donbass. Deren „Unabhängigkeit“während acht Jahren von Moskau nicht anerkannt wurde. Obwohl Russland die Rebellen im blutigen Bürgerkrieg mit der Ukraine mit Waffen belieferte. Erst bei Beginn der „Spezial-Operation“wurden die Separatisten von „Mutter“Russland aufgenommen. Das Hinauszögern hatte einen Grund. Mit dem Minsk-II-Abkommen zwischen Russland und dem Westen sollten die separatistischen „Republiken“mit „voller Autonomie“wieder in die Ukraine eingegliedert werden. Was Kiew jedoch vereitelte.
Jeder Krieg findet irgendwann ein Ende. Ukrainer und Russen müssen an den Verhandlungstisch. Es gibt zwar Stimmen im Westen, welche sich bis zum letzten Ukrainer schlagen wollen, um den Russen möglichst viel Schaden zuzufügen. Doch kann dies letztlich nicht im Interesse des geschundenen ukrainischen Volkes sein. Die Kriegsleiden sind zu groß. Die Kriegsfolgen wirken sich weltweit aus.
Eine wohlverstandene Solidarität mit der Ukraine muss deshalb mit realistischen Zielen einhergehen. Einen totalen Sieg der Ukraine über Russland wird es nicht geben. Die Ukraine muss selbst bestimmen, wo ihre Interessen liegen. Das kann kein jahrelanger Abnutzungskampf sein.
* Der Autor ist früherer LSAP-Minister und -Europaabgeordneter.