Luxemburger Wort

Jeder Krieg muss einmal enden

Die Ukraine benötigt unsere Solidaritä­t, auch für mehr Realismus

- Von Robert Goebbels *

„Krieg ist ein höchst unvorherse­hbares Geschäft“meint der britische Journalist und Orwell-Preisträge­r Anatol Lieven. Effektiv gehen Kriege selten so aus, wie sie in den militärisc­hen Planungsst­äben der Staaten konzipiert wurden. Nicht immer ist das auf dem Papier stärkste Land automatisc­h der Sieger.

Sonst könnte niemand den USA etwas anhaben. Die sich mit einem jährlichen Militärbud­get von über 811 Milliarden Dollar die weltweit höchsten Rüstungsau­sgaben leisten. Dieses US-Budget übersteigt die gesamten militärisc­hen Ausgaben der zehn nachfolgen­den Staaten. Darunter China mit 250 Milliarden Dollar und Russland mit 63 Milliarden Dollar. Allein die USA und ihre NATO-Partner bestreiten alljährlic­h weit über die Hälfte der weltweiten Militäraus­gaben (Zahlen laut Pascal Boniface, „L’Année Stratégiqu­e 2023“).

Dennoch hat dieser militärisc­he Gigant letztes Jahr den Kampf gegen die Taliban in Afghanista­n aufgegeben. Die Amerikaner wurden nicht besiegt. Sie zogen sich im Mai 2021 zurück. Vorher schon, 1989, setzte sich die „glorreiche“Rote Armee der damaligen Sowjetunio­n nach zehn Jahren erfolglose­r Besetzung Afghanista­ns ab. Laut Thomas Gomart („L'Affolement du Monde“) hatten die USA auf dem Höhepunkt ihrer militärisc­hen Aktion gegen die Taliban jede Woche zwei Milliarden Dollar ausgegeben. Das jährliche Militärbud­get der Taliban wurde auf 20 Millionen Dollar geschätzt.

Die von George W. Bush mit Unterstütz­ung von Tony Blair, José Maria Aznar und Co gewollte Eliminieru­ng von Saddam Hussein und seinen Massenvern­ichtungswa­ffen führte wegen der totalen Luftüberle­genheit der Amerikaner zu einem schnellen „Sieg“. Doch wurden weder die gesuchten Waffen gefunden, noch der Irak befriedet. Der von Nicolas Sarkozy mithilfe der Amerikaner betriebene Sturz des Gaddafi-Regimes in Libyen führte ebenfalls nicht zur Stabilisie­rung des Landes. Dessen ehemaligen Waffenarse­nale weiterhin „Al-Kaida“und die Rebellen in Nigeria wie im Sahel alimentier­en.

Der Kosovo-Krieg gegen Serbien endete nach 79 Tagen und 19.150 Flug-Einsätzen der Amerikaner und anderer NATO-Staaten. Serbien, so groß wie Österreich und mit weniger als sieben Millionen Menschen, war den Bomben der NATO-Übermacht nicht gewachsen. So kam es ohne UNO-Mandat zur völkerrech­tlich nicht lupenreine­n Abtrennung des Kosovo. Von einer totalen Niederlage der Serben ist dennoch keine Rede. Welche die Abtrennung ihrer „historisch­en“Provinz weiterhin nicht anerkennen.

Russlands falsche Kalkulatio­n

Vor diesen Hintergrün­den muss der russische Krieg in der Ukraine beurteilt werden. Als Putin am 24. Februar 2022 seine „Spezial-Operation“startete, waren im Westen nicht wenige der Ansicht, es käme zu einem schnellen Sieg der russischen Großmacht. Die Russen hatten in wenigen Tagen die gesamte ukrainisch­e Luftwaffe zerstört. Ihre Panzerkolo­nnen drangen Richtung Kiew vor. Die Amerikaner boten damals Präsident Selenskyj an, ihn in Sicherheit zu bringen. Woraufhin der begnadete Selbstdars­teller geschichts­reif erwiderte: „Ich benötige kein Taxi, ich benötige Waffen.“

Putin rechnete mit einem schnellen Sturz Selenskyjs, um ihn durch einen Moskau genehmen Statthalte­r zu ersetzen. Doch obwohl die Ukrainer zu über einem Drittel aus ethnischen Russen bestehen, erfolgte ein unerwartet­es Zusammenst­ehen des angegriffe­nen Volkes. Das mit starker Motivation und zum Teil unkonventi­onellen Mitteln gegen die russischen Panzerverb­ände vorging und deren logistisch­e Nachschubk­etten zerstörte. Jedenfalls mussten die russischen Truppen von der Einnahme der historisch­en Stadt Kiew abrücken. Sie konzentrie­rten sich auf die Eroberung des gesamten Donbass und der Küstenstäd­te am Schwarzen Meer.

Die sich steigernde­n Lieferunge­n modernster Waffensyst­eme durch die USA und die NATO-Staaten erlauben nunmehr der ukrainisch­en Armee, bereits verlorenes Terrain zurückzuge­winnen.

Das Kriegsgesc­hehen belegt die Überlegenh­eit westlicher Waffensyst­eme. Allein die USA haben bislang der Ukraine Waffen in einem Gesamtwert geliefert, der höher ist als das Jahresbudg­et der russischen Armee. Dazu kommen modernste Waffen aus Deutschlan­d, Großbritan­nien, Frankreich und selbst der Türkei. Wobei letzterer NATO-Staat eine etwas zwielichti­ge Rolle spielt.

Zu vollmundig?

Jedenfalls fühlen sich Selenskyj und seine Mitstreite­r nunmehr stark genug, um einen totalen Sieg gegen die Russen anzustrebe­n. Diese selbst aus der 2014 annektiert­en Krim zu vertreiben.

Bei aller notwendige­n Solidaritä­t mit dem tief geprüften ukrainisch­en Volk und seinem telegenen Präsidente­n ist ein solches Ansinnen recht vollmundig.

Es setzt die totale Niederlage der Russischen Föderation voraus. Immerhin der größte Flächensta­at der Welt. Dessen 17 Millionen Quadratkil­ometer wohl kaum mit militärisc­hen Mitteln ganz zu besetzen sind. Vor allem sind die Russen die zweitgrößt­e Nuklearmac­ht. Putin droht regelmäßig mit seinen taktischen atomaren Waffen. Die er sehr wahrschein­lich einsetzen würde, ginge es ihm ernsthaft an den Kragen.

Dazu gehört die Rückerober­ung der Krim. Die historisch gesehen länger eine russische Halbinsel als ukrainisch­es Land war. Erst vor einem halben Jahrhunder­t gliederte Chruschtsc­how durch einen in der damaligen Sowjetunio­n politisch wenig relevantem Akt die russische Krim in die ukrainisch­e Teilrepubl­ik ein.

Als Putin 2014 die Krim annektiert­e, stieß er offensicht­lich bei den zu über 80 Prozent russischst­ämmigen Einwohnern auf Zustimmung. Die dort lebenden Krim-Tataren mögen zwar keine Russen-Freunde sein. Sind aber auch keine Ukrainer. Mit der Annektieru­ng wollte Putin den Hafen Sewastopol sichern. Eine russische Enklave innerhalb der damaligen Ukraine. Halb so groß wie Luxemburg, 2014 von 400 000 Russen bewohnt. Darunter die Soldaten und Matrosen der russischen Schwarzmee­r-Flotte. Immerhin der einzige das ganze Jahr über eisfreie Militärhaf­en Russlands. Deshalb Stützpunkt für einen großen Teil der russischen nuklearen Unterseebo­ote.

Nur wer unfähig ist, sich in die Lage eines Gegners zu versetzen, wird nicht verstehen, dass Moskau eine Aufgabe von Sewastopol nie zulassen wird. Sollte die Ukraine, was das deklariert­e Ziel von Selenskyj ist, einmal Mitglied der NATO werden, läge nach einer Rückerober­ung der Krim der wichtigste eisfreie Militärhaf­en Russlands

inmitten von NATO-Territoriu­m. Aus russischer Sicht inakzeptab­el.

Es ist bezeichnen­d, dass Putin 2014 die Krim sofort annektiert­e. Nicht aber die drei selbst proklamier­ten „russischen Republiken“im Donbass. Deren „Unabhängig­keit“während acht Jahren von Moskau nicht anerkannt wurde. Obwohl Russland die Rebellen im blutigen Bürgerkrie­g mit der Ukraine mit Waffen belieferte. Erst bei Beginn der „Spezial-Operation“wurden die Separatist­en von „Mutter“Russland aufgenomme­n. Das Hinauszöge­rn hatte einen Grund. Mit dem Minsk-II-Abkommen zwischen Russland und dem Westen sollten die separatist­ischen „Republiken“mit „voller Autonomie“wieder in die Ukraine eingeglied­ert werden. Was Kiew jedoch vereitelte.

Jeder Krieg findet irgendwann ein Ende. Ukrainer und Russen müssen an den Verhandlun­gstisch. Es gibt zwar Stimmen im Westen, welche sich bis zum letzten Ukrainer schlagen wollen, um den Russen möglichst viel Schaden zuzufügen. Doch kann dies letztlich nicht im Interesse des geschunden­en ukrainisch­en Volkes sein. Die Kriegsleid­en sind zu groß. Die Kriegsfolg­en wirken sich weltweit aus.

Eine wohlversta­ndene Solidaritä­t mit der Ukraine muss deshalb mit realistisc­hen Zielen einhergehe­n. Einen totalen Sieg der Ukraine über Russland wird es nicht geben. Die Ukraine muss selbst bestimmen, wo ihre Interessen liegen. Das kann kein jahrelange­r Abnutzungs­kampf sein.

* Der Autor ist früherer LSAP-Minister und -Europaabge­ordneter.

 ?? Foto: AFP ?? Zerstörte gepanzerte Fahrzeuge in der ukrainisch­en Region Charkiw: Der seit über acht Monate andauernde Krieg bedeutet auch immenses menschlich­e Leid und enorme materielle Schäden, gibt der Autor zu bedenken.
Foto: AFP Zerstörte gepanzerte Fahrzeuge in der ukrainisch­en Region Charkiw: Der seit über acht Monate andauernde Krieg bedeutet auch immenses menschlich­e Leid und enorme materielle Schäden, gibt der Autor zu bedenken.

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg