Wenn Schmerzen das Leben bestimmen
Mach mehr Sport! Iss einfach weniger! Versuch doch abzunehmen! Das sind Ratschläge, die Lipödem-Patientinnen immer wieder zu Ohren kommen, ihnen aber absolut nicht helfen. Denn die bislang eher unbekannte Krankheit ist hartnäckig. Die Fettzellen bleiben, egal wie sehr sich Betroffene dagegen wehren. Beim Lipödem wuchert das Fettgewebe unkontrolliert.
Doch die Betroffenen leiden weitaus mehr als nur unter ihrem Erscheinungsbild. „Als würde jemand mit einem Messer in meine Oberschenkel stechen“, so beschreibt Martine Alzin die Schmerzen. Und wenn man abends im Bett liegt, nachdem man den ganzen Tag auf den Beinen gewesen war, fühlt es sich an, als würde die Haut einfach aufreißen, fügt die Vizepräsidentin der Vereinigung Lipödem Lëtzebuerg hinzu.
Gemeinsam mit ihrem Mann betreibt die Vorsitzende einen pädagogischen Bauernhof in Marienthal. Dementsprechend muss sie mit Kindern herumtoben und sich um Ziegen, Kühe, Esel und Hühner kümmern können. Als die Krankheit jedoch begann, ihren Alltag zu dominieren, traf sie eine grundlegende Entscheidung.
Wenn der Weg in den Keller zu schmerzhaft wird
Fünf chirurgische Eingriffe hat Gaby Vosman-Goedert bereits hinter sich. Innerhalb von zwei Jahren unterzog sie sich den Liposuktionen in einer Fachklinik in Köln. Für 27 500 Euro, finanziert aus eigener Tasche. Die Krankenkasse in Luxemburg übernimmt eine Liposuktion nämlich erst ab dem dritten Stadium. Dass die Präsidentin es in Stadium zwei bis drei durch die Schmerzen nicht mehr schaffte in den Keller zu gehen oder alltägliche Dinge zu erledigen, wurde nicht berücksichtigt.
Sie selbst sagt, sie habe Glück gehabt. Ihre Lebensversicherung wurde fällig und sie nutzte das Geld, um ein neues, beschwerdefreies Leben zu beginnen. Geld, das eigentlich dafür vorgesehen war, Träume zu erfüllen, neue Länder zu bereisen. „Für die Krankenkasse zählt nur das Volumen. Die Schmerzen, die auch schon in früheren Stadien auftreten können, spielen für sie keine Rolle.“„Telefonieren, Haare waschen, Haare föhnen. Diese alltäglichen Sachen wurden zur Qual.“Gaby unterstreicht, dass sie durch die Operation eine Lebensqualität zurückbekommen habe, die für sie unbezahlbar sei.
Wie so oft im Großherzogtum wird über die konkreten Zahlen keine Statistik geführt. Studien gehen jedoch davon aus, dass rund zehn bis elf Prozent der erwachsenen Frauen weltweit von einem Lipödem betroffen sind. Das Lipödem charakterisiert sich durch eine chronische Erkrankung des Unterhautfettgewebes mit zusätzlicher Ödembildung. Durch die hormonellen Veränderungen während der Pubertät oder einer Schwangerschaft sind vorwiegend Frauen von der Krankheit betroffen. Doch auch Männer können durch bestimmte Vorerkrankungen oder Hormontherapien einem Erkrankungsrisiko ausgesetzt sein.
Als würde man zwei unterschiedliche Körper aufeinandersetzen
Die Diagnose zu stellen, scheint laut Dr. Lena Belik oftmals ein schwieriges Unterfangen, da keine krankheitstypischen Laborbefunde existieren. Die Hautärztin, die sich unter anderem in Phlebologie (Behandlung von Gefäßerkrankungen) spezialisierte, ergänzt, dass die Diagnose aufgrund typischer klinischer Merkmale der Fettverteilung, der Schmerzen und der Neigung zu Hämatomen gestellt wird. Ins Auge fällt besonders die Disproportion zwischen Ober- und Unterkörper, die charakteristisch für das Lipödem ist. „Als würde man zwei unterschiedliche Körper aufeinandersetzen.“So beschreibt Gaby Vosman-Goedert das Erscheinungsbild der Betroffenen.
Oftmals leiden Betroffene sehr unter ihrem Aussehen. Auch wenn Gaby betont, dass es sich bei sichtbaren Symptomen nicht ausschließlich um ein ästhetisches Problem handelt. Dennoch leben wir in einer Gesellschaft, in der Aussehen immer noch eine wesentliche Rolle spielt. Stigmatisiert und verurteilt aufgrund ihres Aussehens neigen Betroffene dazu, sich in den Teufelskreis der Essstörungen zu stürzen. So auch Martine Alzin, die in ihrer Jugend mit Magersucht und dann wieder Übergewicht zu kämpfen hatte. Da die Fettzellen nicht auf natürlichem Wege abgebaut werden können, ist jeder Versuch abzunehmen aussichtslos. Dem pflichtet auch Dr. Belik bei, denn im Gegensatz zur Adipositas besteht beim Lipödem kein direkter Bezug zur Kalorienaufnahme- oder Restriktion.
Die psychischen Nebenwirkungen sind auch laut Dr. Lena Belik nicht zu unterschätzen. „Die zum Teil dramatische Veränderungen von Körperform und Funktion haben negative Auswirkungen auf Lebens- und Arbeitsqualität sowie auf das Selbstwertgefühl der Patienten. Dies äußert sich in Leistungsabfall, Depressionen, zum Teil auch in frustbedingter sekundärer Adipositas.“
Langfristig ist eine Liposuktion der einzige effektive Ausweg, um den leidgeplagten Patientinnen das Leben zu erleichtern. Wobei man sich auch von dem Gedanken verabschieden solle, nach dem Eingriff auf wun
Gaby Vosman-Goedert (l.) und Martine Alzin kämpfen mit der Vereinigung Lipödem Lëtzebuerg für die Anerkennung der Krankheit.
Als würde jemand mit einem Messer in meine Oberschenkel stechen. Martine Alzin
Telefonieren, Haare waschen, Haare föhnen. Diese alltäglichen Sachen wurden zur Qual. Gaby Vosman-Goedert