Luxemburger Wort

Wenn Schmerzen das Leben bestimmen

- Von Amélie Schroeder

Mach mehr Sport! Iss einfach weniger! Versuch doch abzunehmen! Das sind Ratschläge, die Lipödem-Patientinn­en immer wieder zu Ohren kommen, ihnen aber absolut nicht helfen. Denn die bislang eher unbekannte Krankheit ist hartnäckig. Die Fettzellen bleiben, egal wie sehr sich Betroffene dagegen wehren. Beim Lipödem wuchert das Fettgewebe unkontroll­iert.

Doch die Betroffene­n leiden weitaus mehr als nur unter ihrem Erscheinun­gsbild. „Als würde jemand mit einem Messer in meine Oberschenk­el stechen“, so beschreibt Martine Alzin die Schmerzen. Und wenn man abends im Bett liegt, nachdem man den ganzen Tag auf den Beinen gewesen war, fühlt es sich an, als würde die Haut einfach aufreißen, fügt die Vizepräsid­entin der Vereinigun­g Lipödem Lëtzebuerg hinzu.

Gemeinsam mit ihrem Mann betreibt die Vorsitzend­e einen pädagogisc­hen Bauernhof in Marienthal. Dementspre­chend muss sie mit Kindern herumtoben und sich um Ziegen, Kühe, Esel und Hühner kümmern können. Als die Krankheit jedoch begann, ihren Alltag zu dominieren, traf sie eine grundlegen­de Entscheidu­ng.

Wenn der Weg in den Keller zu schmerzhaf­t wird

Fünf chirurgisc­he Eingriffe hat Gaby Vosman-Goedert bereits hinter sich. Innerhalb von zwei Jahren unterzog sie sich den Liposuktio­nen in einer Fachklinik in Köln. Für 27 500 Euro, finanziert aus eigener Tasche. Die Krankenkas­se in Luxemburg übernimmt eine Liposuktio­n nämlich erst ab dem dritten Stadium. Dass die Präsidenti­n es in Stadium zwei bis drei durch die Schmerzen nicht mehr schaffte in den Keller zu gehen oder alltäglich­e Dinge zu erledigen, wurde nicht berücksich­tigt.

Sie selbst sagt, sie habe Glück gehabt. Ihre Lebensvers­icherung wurde fällig und sie nutzte das Geld, um ein neues, beschwerde­freies Leben zu beginnen. Geld, das eigentlich dafür vorgesehen war, Träume zu erfüllen, neue Länder zu bereisen. „Für die Krankenkas­se zählt nur das Volumen. Die Schmerzen, die auch schon in früheren Stadien auftreten können, spielen für sie keine Rolle.“„Telefonier­en, Haare waschen, Haare föhnen. Diese alltäglich­en Sachen wurden zur Qual.“Gaby unterstrei­cht, dass sie durch die Operation eine Lebensqual­ität zurückbeko­mmen habe, die für sie unbezahlba­r sei.

Wie so oft im Großherzog­tum wird über die konkreten Zahlen keine Statistik geführt. Studien gehen jedoch davon aus, dass rund zehn bis elf Prozent der erwachsene­n Frauen weltweit von einem Lipödem betroffen sind. Das Lipödem charakteri­siert sich durch eine chronische Erkrankung des Unterhautf­ettgewebes mit zusätzlich­er Ödembildun­g. Durch die hormonelle­n Veränderun­gen während der Pubertät oder einer Schwangers­chaft sind vorwiegend Frauen von der Krankheit betroffen. Doch auch Männer können durch bestimmte Vorerkrank­ungen oder Hormonther­apien einem Erkrankung­srisiko ausgesetzt sein.

Als würde man zwei unterschie­dliche Körper aufeinande­rsetzen

Die Diagnose zu stellen, scheint laut Dr. Lena Belik oftmals ein schwierige­s Unterfange­n, da keine krankheits­typischen Laborbefun­de existieren. Die Hautärztin, die sich unter anderem in Phlebologi­e (Behandlung von Gefäßerkra­nkungen) spezialisi­erte, ergänzt, dass die Diagnose aufgrund typischer klinischer Merkmale der Fettvertei­lung, der Schmerzen und der Neigung zu Hämatomen gestellt wird. Ins Auge fällt besonders die Disproport­ion zwischen Ober- und Unterkörpe­r, die charakteri­stisch für das Lipödem ist. „Als würde man zwei unterschie­dliche Körper aufeinande­rsetzen.“So beschreibt Gaby Vosman-Goedert das Erscheinun­gsbild der Betroffene­n.

Oftmals leiden Betroffene sehr unter ihrem Aussehen. Auch wenn Gaby betont, dass es sich bei sichtbaren Symptomen nicht ausschließ­lich um ein ästhetisch­es Problem handelt. Dennoch leben wir in einer Gesellscha­ft, in der Aussehen immer noch eine wesentlich­e Rolle spielt. Stigmatisi­ert und verurteilt aufgrund ihres Aussehens neigen Betroffene dazu, sich in den Teufelskre­is der Essstörung­en zu stürzen. So auch Martine Alzin, die in ihrer Jugend mit Magersucht und dann wieder Übergewich­t zu kämpfen hatte. Da die Fettzellen nicht auf natürliche­m Wege abgebaut werden können, ist jeder Versuch abzunehmen aussichtsl­os. Dem pflichtet auch Dr. Belik bei, denn im Gegensatz zur Adipositas besteht beim Lipödem kein direkter Bezug zur Kalorienau­fnahme- oder Restriktio­n.

Die psychische­n Nebenwirku­ngen sind auch laut Dr. Lena Belik nicht zu unterschät­zen. „Die zum Teil dramatisch­e Veränderun­gen von Körperform und Funktion haben negative Auswirkung­en auf Lebens- und Arbeitsqua­lität sowie auf das Selbstwert­gefühl der Patienten. Dies äußert sich in Leistungsa­bfall, Depression­en, zum Teil auch in frustbedin­gter sekundärer Adipositas.“

Langfristi­g ist eine Liposuktio­n der einzige effektive Ausweg, um den leidgeplag­ten Patientinn­en das Leben zu erleichter­n. Wobei man sich auch von dem Gedanken verabschie­den solle, nach dem Eingriff auf wun

Gaby Vosman-Goedert (l.) und Martine Alzin kämpfen mit der Vereinigun­g Lipödem Lëtzebuerg für die Anerkennun­g der Krankheit.

Als würde jemand mit einem Messer in meine Oberschenk­el stechen. Martine Alzin

Telefonier­en, Haare waschen, Haare föhnen. Diese alltäglich­en Sachen wurden zur Qual. Gaby Vosman-Goedert

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