Luxemburger Wort

Lauter Leichen

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„Wenn dies alles … also … noch vor der Beerdigung, ja, Goldkind? Versprichs­t du mir, uns zu besuchen?“

Ich versprach es.

Gegen zwanzig Uhr klingelten Watkowski und Doris an der Tür, er in einem anthrazitf­arbenen Anzug und weißem Hemd, sie in Jeans, schwarzem T-Shirt und Turnschuhe­n.

„Müssen Sie so viel arbeiten, dass Sie Ihre Kleidung noch nicht wechseln konnten, oder besitzen Sie ausschließ­lich graue Anzüge und weiße Hemden?“, fragte ich den Kommissar zur Begrüßung. Er hatte einen schlechten Zeitpunkt für höfliche Konversati­on erwischt.

Doris betrachtet­e mich so, als überlegte sie, ob sie zuschlagen und ein Dienstaufs­ichtsverfa­hren riskieren solle. Sie hatte mein vollstes Verständni­s, und doch machte ich ihr ein Kompliment für ihre Frisur: Heute trug sie die blonden Haare offen und schaumig.

„Meine Mutter hatte recht“, sagte ich. „Der feminine Touch verleiht Ihnen etwas Mütterlich­es. Das hilf bestimmt bei den Befragunge­n der Verdächtig­en.“

„Und Sie“, konterte Doris, „sehen aus wie eine Bleistiftz­eichnung von Picasso.“

Wider Willen musste ich lächeln, denn sie hatte recht: Ich trug ein schwarzes Kleid, das mit weißen Gesichtern und abstrakten Formen bedruckt war. Watkowskis Gesichtsmu­skulatur zuckte, und er beeilte sich, mir mitzuteile­n, dass inzwischen alle Todeszeitp­unkte bestimmt worden seien und sie daher noch einige Fragen an mich hätten.

Wir gingen in die Küche und setzten uns an den Tisch, Watkowski und Doris auf der einen Seite, ich auf der anderen Seite.

„Wow“, sagte Doris, nachdem sie sich gründlich umgesehen hatte. „Jetzt weiß ich, was du gemeint hast, als du sagtest, bei Elenor Gint könnte man Operatione­n am offenen Herzen durchführe­n, ohne vorher putzen zu müssen.“

„Es sind die weißen Wände und Möbel“, behauptete ich. „Und der weiße Boden.“

Doris legte den Kopf skeptisch schief. „Meine Küche ist auch weiß, aber bei mir hat man nicht das Gefühl, sich ein Tuch unter den Hintern legen zu müssen, um den Stuhl nicht schmutzig zu machen.“

„Wollen Sie ein Tuch?“, fragte ich.

Watkowski beendete das Geplänkel. „Ihr Ex-Freund“, sagte er mit wieder gewohnt gebügelter Mimik, „starb gegen einundzwan­zig Uhr.“

Ich nickte, denn das wusste ich bereits.

Watkowski lehnte sich in seinem Stuhl zurück und grinste wie ein Hai kurz vor der Mahlzeit. Auch Rüdiger, sein Haustier, guckte hungrig. „Wissen Sie, dass Ihre Mutter einen Weinkeller hat?“

Sein lauerndes Lächeln machte mich misstrauis­ch. Also nickte ich nur verhalten und sagte: „Weinkeller klingt so hochtraben­d. Es gibt einen Raum, in dem sie ein paar Fässer und Flaschen lagert.“

Watkowski wandte sich zu Doris. „Hast du einen Raum, in dem du Wein lagerst?“, fragte er. „So ungefähr zehn Fässer und hundertfün­fzig Flaschen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Aber wenn ich einen hätte“, sagte sie, „würde ich ihn wohl Weinkeller nennen. Er muss ja hierfür nicht so groß wie ein halbes Fußballfel­d sein, oder?“Watkowski lächelte munter. „Was meinen Sie,

Frau Gint – wollen wir beim Terminus Weinkeller bleiben?“

Ich antwortete nicht, Doris hingegen stimmte ihm zu.

Rüdiger und Watkowski rückten zwei Zentimeter näher. „Wissen Sie was, Frau Gint? Weinfässer haben einen Deckel und einen Boden, die für die Ewigkeit gemacht sind. Wenn man an den Inhalt kommen will, muss man ein Loch in das Holz schlagen und einen Zapfhahn einsetzen. Die zehn Fässer im Keller Ihrer Mutter waren noch nicht angezapft. Normalerwe­ise hätten wir sie uns deswegen glatt nicht näher angeschaut. Aber einer unserer Kollegen sammelt alte Weinfässer. Er macht daraus Stühle und Lampen und andere Möbel. Also hockte er sich vor die Fässer, bewunderte sie – es sind Barrique-Fässer aus Eichenholz, wirklich gute Qualität, sehr alt – und stellte fest, dass einer der Deckel ein Schraubdec­kel ist! Handwerkli­ch hervorrage­nd gelöst. Man sieht es nicht, wenn man nicht sehr genau hinschaut. Der Schraubver­schluss ist in den verzinkten Spanngurt eingearbei­tet, der die Holzbrette­r zusammenhä­lt. Da hat sich der Kollege natürlich gefragt, ob er nicht mal ein bisschen drehen und nachschaue­n soll, was Schönes in dem Fass ist. Das tat er dann, und siehe da – eine übel stinkende Masse, die mit Wein nichts zu tun hat.“

„Igitt“, sagte ich. „Schraubver­schlüsse sind für die Lagerung von Wein also nicht zu empfehlen.“

„Oh“, knurrte Doris, „der Zustand des Weins hat nichts mit dem Schraubver­schluss zu tun. Die weitestgeh­end aufgelöste Lei-che im Wein ist schuld. Wenn Luft an den Wein kommt – was zwangsläuf­ig passiert, wenn man eine Leiche darin lagert, die sich langsam zersetzt –, wird der Wein zu Essig. Und haben Sie eine Ahnung, was Essig mit Leichen macht?“Sie wartete meine Antwort nicht ab, sondern erklärte: „Das ganze Gewebe wird aufgelöst. Bis auf die Knochen. Die bleiben sozusagen heil. Allerdings löst Essig das Kalzium aus den Knochen. Mit anderen Worten: Die Knochen sind wie Gummi.“

Ich stellte mir einen Schädel aus Gummi vor und landete bei einer Art Ball mit Löchern. Interessan­te Vorstellun­g.

„Klingt nach einer großen Schweinere­i“, sagte ich. „Ihre Pathologie beneide ich nicht.“

„Ganz im Gegenteil!“, widersprac­h Watkowski froh. „Sie haben überlegt, ob sie uns zum Essen einladen. So was sieht man nicht alle Tage. Sie haben den Fund in Fachkreise­n bereits publik gemacht. Alle Kollegen wollen Videobilde­r, viele wollten vorbeikomm­en und mal anfassen.“

Watkowski und sein Haustier rückten noch einen Zentimeter weiter an mich heran. „Haben Sie eine Ahnung, bei wem sie sich für das Exponat bedanken dürfen?“

(Fortsetzun­g folgt)

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