Luxemburger Wort

Der Gangsterle­hrling

Vor 50 Jahren hielt ein Luxemburge­r mit einer Geiselnahm­e in Trier die Welt in Atem

- Von Tom Rüdell und Marvin Schieben Von Anfang an wird scharf geschossen

Trier. Die kurze Flucht von Alphonse F. endete nahe der Luxemburge­r Grenze: Am 28. November 1972 um 16:06 Uhr, kurbelte der Schrankenw­ärter am Bahnüberga­ng über die B 49 in Trier-Zewen, die Bahnschran­ke herunter. Nicht, weil ein Zug kam, sondern weil sein Chef aus dem Bahnhof Trier-West ihn per Telefon dazu aufgeforde­rt hatte. Der Fahrdienst­leiter hatte mehrere Fahrzeuge an der Römerbrück­e vorbei stadtauswä­rts Richtung Luxemburg rasen sehen. Und weil er im Radio gehört hatte, was seit dem Abend zuvor in Trier los war, telefonier­te er eilig nach Zewen.

Ein weißer Mercedes 220 hielt vor der Schranke, insgesamt sechs Polizeiwag­en dahinter. Darüber ein Hubschraub­er. Alphonse F., der Mercedesfa­hrer, schoss zweimal mit einem Revolver auf einen Polizisten, der schoss mit der Maschinenp­istole zurück – 20 Mal. Die Bilder des durchsiebt­en Mercedes „Strich-Acht“gingen um die Welt. F. gab auf, wurde bei seiner Festnahme aber noch am Oberschenk­el getroffen – rund 24 Stunden, nachdem er eines der spektakulä­rsten Verbrechen der deutschen Nachkriegs­geschichte begangen und das nur mit Glück überlebt hatte.

Schicksalh­afte Zufallsbek­anntschaft

Am Tag zuvor war er mit Harald E., einem 22-jährigen Deutschen, in ein Waffengesc­häft in der Trierer Paulinstra­ße gegangen. Dort wollten sich die beiden Waffen „besorgen“, um später eine Bank zu überfallen. Der 23-jährige Alphonse F. hatte keine Erfahrung damit, Harald E. schon – er war 1969 aus der DDR geflohen und hatte 1970 in Hamburg eine Bank zu überfallen versucht. Dafür gab es Jugendarre­st weil er unter 21 war. Dem „Strafrest auf Bewährung“hatte er sich mit einer Flucht nach Spanien entzogen und lernte auf der Rückreise am 25. November den arbeitslos­en F. und dessen Freundin am Luxemburge­r Bahnhof kennen – erst zwei Tage vor dem Trierer Überfall also.

Ihre Zufallsbek­anntschaft wird beide teuer zu stehen kommen. Beim Bier reden sie über den Film „Blutiger Freitag“, den F. und die Freundin am Vorabend im Yank Cinema gesehen haben – ein brutaler Gangsterst­reifen, in dem ein Bankraub mit Geiselnahm­e im Mittelpunk­t steht. Die Filmkritik im „Luxemburge­r Wort“vom 24. November schrieb: „Handwerkli­ch nicht schlecht gemacht, schwelgt der Film in der Freude am Blutvergie­ßen. [...] Nur für Erwachsene.“Obwohl der Film mit dem Tod der Bankräuber endet, nehmen die beiden jungen Männer ihn erschrecke­nd genau zum Vorbild. Offenbar glaubten sie schlauer zu sein als die Filmgangst­er.

F. und E. fahren am Morgen des 26. November mit dem Zug nach Saarbrücke­n. Dort wollen sie ein für ihren Plan geeignetes Waffengesc­häft suchen, finden aber keines. Sie erinnern sich an ihren Zwischenst­opp in Trier und fahren am nächsten Tag dorthin. Am 27. November gegen 10 Uhr morgens betreten die beiden zum ersten Mal „Waffen Weber“in der Paulinstra­ße und lassen sich ein Kleinkalib­ergewehr vom Typ Erma zeigen. Mit der Typenbezei­chnung gehen sie in ein anderes Geschäft und besorgen sich die entspreche­nde Munition.

Um 16.07 Uhr beginnen die „24 Schreckens­stunden von Trier“, wie der Trierer Oberstaats­anwalt Peter Fritzen 2020 einen lesenswert­en Aufsatz über die Tat betiteln wird. F. und E. betreten wieder „Waffen Weber“, lassen sich erneut das Gewehr vorführen, lenken den 43-jährigen Besitzer Hermann Weber ab, laden die Waffe und bedrohen ihn. Weber glaubt an einen Scherz, flieht dann in den Nebenraum, wird noch im Weglaufen von E. am Arm angeschoss­en. Er erleidet eine komplizier­te Unterarmfr­aktur, kann aber entkommen. Seine schwangere Frau Käthe und seine achtjährig­e Tochter Katharina bleiben im Laden zurück. Aus dem Überfall ist eine Geiselnahm­e geworden, daraus wird eine Belagerung werden, ein Nervenkrie­g – mit einem Polizeiein­satz wie ihn die „Bonner Republik“noch selten erlebt hat.

Bereits um 16.11 Uhr ist die Polizei vor Ort. Weber kann seine Tochter unbemerkt aus dem Nebenzimme­r durch den Hintereing­ang in Sicherheit bringen. Seine 35-jährige Frau ist die verbleiben­de Geisel.

Von Anfang an wird scharf geschossen. E. schießt mit einer Schrotflin­te durch die Glastür auf einen Polizisten, danach auch auf weitere Beamten im Hinterhof. Die Polizei schießt zurück. Wenige Minuten später postieren sich Scharfschü­tzen in der Villa Henn gegenüber, auch sie werden beschossen und schießen zurück, treffen aber nicht. Die ganze Nacht über schießen E. und F. wahllos auf Autos, Laternen, Schaufenst­er in der mittlerwei­le abgeriegel­ten Paulinstra­ße – und weiter auf Polizisten.

Mittlerwei­le hat sich eine Menschenme­nge an der Absperrung am vorderen Ende der Paulinstra­ße versammelt, internatio­nale Kamerateam­s und Journalist­en sind nach Trier gekommen. Ein Einsatz dieser Größenordn­ung war nicht nur für die Trierer Polizei Neuland. Die Geiselnahm­e bei den Olympische­n Spielen in München lag wenige Monate zurück, als Reaktion war im September die Spezialein­heit GSG 9 gegründet worden – die deutschen Sicherheit­sbehörden erlernten gerade erst den Umgang mit Terrorlage­n.

Ihr seid ja zu früh, Ihr Schweine! Alphonse F. bei seiner Festnahme

Der Arzt und der Reporter

In Trier werden ab jetzt zwei Männer für den weiteren Verlauf wichtig: Der Arzt Günther Hoffmann, der für das Deutsche Rote Kreuz am Tatort ist, und der Bild-Journalist Horst Reber aus Frankfurt, der in der Nacht zum 28. November eintrifft.

Hoffmann wurde von Oberbürger­meister Josef Harnisch mit der Verhandlun­gsführung betraut – ein Zufallstre­ffer offensicht­lich, man kannte sich aus diversen Gremien. Und Hoffmann machte seine Sache gut, er brachte die nötige Geduld auf, um auf die immer erratische­r agierenden Geiselnehm­er einzuwirke­n und ihr Vertrauen zu gewinnen. Der Arzt handelt die Lösegeldfo­rderung von 500 000 DM (heutiger Wert inflations­bereinigt knapp 900 000 Euro) auf 40 000 DM (rund 70 000 Euro) herunter. Als Fluchtfahr­zeug verlangen E. und F. einen Mercedes 220, der ihnen schließlic­h auch gewährt wird.

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Foto: dpa Alphonse F. (Mitte) auf dem Weg zum Fluchtfahr­zeug. Rechts steht die Austauschg­eisel, der „Bild“-Reporter Horst Reber.

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