Pyrrhus-Siege im Donbass
Der Kampf um Bachmut könnte Wladimir Putins Streitmacht noch teuer zu stehen kommen
Die Ukrainer erzählen immer wieder die gleiche Geschichte: Der Feind schicke seine Infanterie, meist Kämpfer der Söldnertruppe Wagner, zum Sturmangriff, beschieße dann die Positionen, aus denen die Ukrainer auf sie feuerten, mit Artillerie. Es folgten neue Angriffswellen. „Du schießt und schießt, bis deine Maschinenpistole klemmt!“, sagt ein Verteidiger dem TV-Kanal Current Time.
Seit über einem halben Jahr kämpfen Russen und Ukrainer um die ostukrainische Stadt Bachmut. Für die Ukrainer ist es eine Zermürbungsschlacht, in der vor allem feindliche Soldaten sterben sollen. „Unsere Hauptaufgabe ist weniger, die Stadt zu halten“, sagt der Frontoffizier Taras Beresowjez, „als dem Feind maximale Verluste beizubringen.“Nach NATOAngaben sind die russischen Verluste tatsächlich fünfmal so hoch wie die der Ukrainer.
Russlands Medien aber feiern die Kämpfe um die Stadt als erfolgreiche Kesselschlacht. Laut dem Frontkorrespondenten Andrei Koz fallen dort täglich 100 bis 200 Ukrainer. Und gestern meldete RIA Nowosti unter Berufung auf einen Donezker Rebellenfunktionär wieder einmal die „taktische Einkreisung“von etwa 10.000 Ukrainern in Bachmut, das in Russland nur Artjomowsk genannt wird, nach einem frühsowjetischen Donezker Kommunistenführer.
Russlands Verteidigungsminister Sergei Schoigu bezeichnete Bachmut am Dienstag als wichtigen Knoten der ukrainischen Verteidigung. „Ihn unter Kontrolle zu bringen, erlaubt Angriffe in die Tiefe der ukrainischen Verteidigung.“Auch das klingt nach Entscheidungsschlacht.
Bachmut war schon Mitte Mai 2022 unter massives russisches Artilleriefeuer geraten. Die 74.000-Seelenstadt interessierte Wladimir
Putins Generäle vor allem deshalb, weil ihre Eroberung den Weg nach Konstantinowka im Südwesten eröffnet hätte. Mit einem Vorstoß in diese Richtung hätte man die ukrainischen Hauptkräfte im Raum Kramatorsk von Süden her umfassen können. Zusammen mit der damals aus Isjum von Norden her rollenden russischen Offensive drohte den Ukrainern eine klassische Einkesselung. Aber beide Angriffe kamen nur in Zeitlupe voran. Und als die Ukrainer im September Isjum zurückeroberten, war der nördliche russische Zangenarm der Russen weggebrochen. Bachmut hatte seinen strategischen Wert verloren.
„Die ganze Front bricht zusammen“
Aber schon damals war die Stadt halb eingekreist. Und dort kämpfte Moskaus lautester Truppenführer, Jewgenij Prigoschin, der Chef der Wagner-Söldner. Der politisch hochambitionierte Großunternehmer sorgte dafür, dass Bachmut in den Schlagzeilen blieb: Seine Kämpfer eroberten hier ein Dorf, drangen dort in eine Vorstadt ein, der Einsatz zehntausender Kriegsgefangene als WagnerSturmsoldaten sorgte für viel Aufregung.
Glaubt man Prigoschin, so ist Bachmut inzwischen auch Dreh- und Angelpunkt der russischen Verteidigung. Wenn sich seine Söldner aus der Stadt zurückziehen müssten, verkündete er auf Telegram, stießen die Ukrainer vermutlich bis zur russischen Grenze, wenn nicht noch weiter vor. „Die ganze Front bricht zusammen.“
Taktisch wiederholen die Russen in der Schlacht von Bachmut ihre teuren Eroberungen von Mariupol, Sjewjerodonezk und Lyssytschansk: Nach dem im März gescheiterten Blitzkrieg bei Kiew riskierte man keine großen Manöver mehr, sondern schickte an begrenzten, meist städtischen, Frontabschnit
ten im Donbass Rekruten aus den Rebellenrepubliken Donezk und Lugansk in blutige Massenangriffe, später Prigoschins Exsträflinge, inzwischen auch russische Mobilisierte. Vorher hatte man an den Stadträndern viel Artillerie konzentriert, ihr Trommelfeuer legte nach und nach alle Gebäude in Trümmer, in denen sich die Ukrainer verschanzten.
In jeder dieser Schlachten gelang es auf diese Weise, den zahlenmäßig unterlegenen Gegner zurückzudrängen. Aber nirgendwo konnte man seine Front aufreißen, die ukrainischen Verteidiger wichen, ohne aus dem Konzept zu geraten.
„Haben nicht vor, Bachmut zu räumen“
„Sie machten deutlich, dass jede russische Offensive schwere Verluste mit sich bringen würde“, schreiben die beiden US-Militärexperten Michael Kofman und Rob Lee. „Und sie verlangsamten den Vormarsch der Russen, gewannen so kritische Zeit, in denen andere ukrainische Truppen an immer moderneren westlichen Waffen trainieren konnten.“Auf diese Weise hätten Russlands taktische Pyrrhussiege die ukrainischen Gegenoffensiven in den Regionen Charkow und Cherson erst möglich gemacht.
In Bachmut gerät der lokale Sieg noch mühsamer, noch verlustreicher, auch weil die Ukrainer diese westlichen Waffen inzwischen einsetzen. Im Gegensatz zum Frühjahr 2022 reden ukrainische Frontsoldaten an der Bachmutfront von Gleichstand bei der Zahl der Abschüsse. „Aber unsere westliche Technik ist treffsicherer, unser Feuer zeigt deutlich mehr Wirkung.“
Wolodymyr Selenskyj verkündete am Montag, die ukrainischen Truppen hätten nicht vor, Bachmut zu räumen. Prigoschin dagegen beschwert sich fast täglich über fehlende Geschützmunition. Und laut dem amerikanischen Institute for War setzt er zusehends Profis seiner Wagner-Truppen als Sturminfanterie ein, was die Verluste noch teurer macht.
Währenddessen lassen sich ukrainische Soldaten an westlichen Kampfpanzern ausbilden. Experten erwarten in den nächsten Monaten eine neue ukrainische Gegenoffensive, vielleicht an der Südfront. Es ist keineswegs gewiss, dass die Schlacht um Bachmut bis dahin vorbei sein wird.