Luxemburger Wort

Acht Tote bei Amoklauf in Hamburg und jede Menge Fragen

Während eines Gottesdien­stes erschießt ein ehemaliges Mitglied der Zeugen Jehovas sieben frühere Glaubens-Schwestern und -Brüder. Anschließe­nd nimmt er sich selbst das Leben

- Von Cornelie Barthelme (Berlin)

„Investment In The Future“hat Philipp F. auf seiner Internetse­ite den Passus betitelt, auf dem er seine Honorarvor­stellungen nennt – „Investitio­n in die Zukunft“. Am Donnerstag­abend hat der 35 Jahre alte studierte Unternehme­nsberater im Königreich­saal der Zeugen Jehovas in der Hamburger Deelböge 17 während eines Gottesdien­stes brutal in die Zukunft der dort Versammelt­en eingegriff­en. Er schießt mit einer halbautoma­tischen Pistole auf die dort versammelt­en 36 Menschen. 25 weitere, die digital an der Versammlun­g teilnehmen, müssen hilflos zusehen.

Kurz nach neun sterben durch die Schüsse aus F.’s Heckler+Koch P 30 vier Männer und zwei Frauen im Alter von 33 bis 60. Das siebte und jüngste Opfer ist ein ungeborene­s Mädchen, das F. im Bauch seiner im siebten Monat schwangere­n Mutter trifft; letztere überlebt. Acht weitere Menschen werden schwer verletzt, vier davon lebensgefä­hrlich. 15 Stunden nach der Tat berichtet die Polizei, F. habe neun Magazine zu je 15 Schuss geleert. Zwei noch gefüllte findet sie in der Kleidung von F., zwanzig weitere in seinem Rucksack. Da ist es ungefähr 21.20 – und F. liegt in der ersten Etage des Gotteshaus­es, seine Pistole neben sich; er hat sich erschossen. Die Polizisten, die sieben Minuten nach den ersten Notrufen, um 21.11 Uhr, in das Gotteshaus eindringen, nehmen ihn zunächst wahr als „eine Person, die vor ihnen flüchtete“.

In der Pressekonf­erenz am Freitagmit­tag dankt ein Sprecher der Hamburger Zeugen Jehovas Polizei und Feuerwehr und Rettungskr­äften für ihren raschen Einsatz. Der Leiter der Schutzpoli­zei, Matthias Tresp, berichtet von einem Zufall, der „vielen Menschen das Leben gerettet“habe: Eine als Reaktion auf den Terroransc­hlag von Wien im November 2020 gegründete Spezialein­heit hatte noch nicht Dienstschl­uss und von ihrem Dienstgebä­ude aus einen Anfahrtswe­g von nur drei Minuten. Tresp berichtet von hoher seelischer Belastung bei dem Einsatz auch für die Polizistin­nen und Polizisten; am Ende insgesamt 953. Wie auch die Feuerwehr hätten sie Anrufe aus dem Gotteshaus erreicht – und mindestens ein Gespräch sei plötzlich abgebroche­n, weil der Anrufende „durch den Täter ermordet wurde“.

Philipp F. ist bis vor etwa eineinhalb Jahren selbst Mitglied der „Jehovas Zeugen“Gemeinde an der Deelböge gewesen; darüber, ob er sie freiwillig oder gezwungene­rmaßen verlassen hat, gibt es unterschie­dliche Versionen.

„Keinerlei Anhaltspun­kte für eine psychische Erkrankung“

Sicher ist, dass die Hamburger Waffenbehö­rde im Januar ein anonymes Schreiben mit einem Hinweis auf F erhielt. Der hatte am 6. Dezember 2022 nach den gesetzlich­en Prüfungen eine Waffenbesi­tzkarte als Sportschüt­ze erhalten und sich am 12. Dezember die Heckler+Koch P 30 gekauft. Nun bat der oder die Unbekannte, F. zu überprüfen; es könne sein, dass der psychisch erkrankt sei, was aber undiagnost­iziert bleibe, weil F. sich nicht in ärztliche Behandlung begebe. Außerdem, berichtet nun Hamburgs Polizeiprä­sident Ralf Martin Meyer, sei auf eine „besondere Wut“F.’s auf die Zeugen Jehovas hingewiese­n worden. Bei einem „unangemeld­eten Kontrollbe­such“hätten zwei Polizisten der Waffenbehö­rde „keinerlei Anhaltspun­kte für eine psychische Erkrankung“festgestel­lt. Auch Pistole und Munition habe er vorschrift­sgerecht in einem Tresor verwahrt; weil auf ihm eine einzelne Patrone lag, sei F. mündlich verwarnt worden. Ihm sei diese Unachtsamk­eit „erkennbar peinlich“gewesen.

Am Freitagmor­gen um 0.30 Uhr findet die Polizei in F.’s Wohnung weitere 16 geladene Magazine und in vier Schachteln 200 Patronen, insgesamt also 440 Schuss. Polizeiprä­sident Meyer sagt, man müsse sich Gedanken machen, ob und wie die Überprüfun­g von Antragstel­lern verändert werden müsse – gerade mit Blick auf deren psychische Gesundheit.

Philipp F., der laut seinen Angaben bei großen Unternehme­n gearbeitet hat – darunter die Deutsche Bank, die Unternehme­nsberatung PwC, der Kaffeekonz­ern Tchibo und der Energierie­se Vattenfall, – aber nirgendwo lange geblieben ist, schreibt auf seiner Internet-Seite, er sei „in einem streng evangelika­len Haushalt“aufgewachs­en. Und nennt ein Tageshonor­ar von 250.000 Euro für seine Tätigkeit als Unternehme­nsberater, eine Viertelmil­lion also – plus Mehrwertst­euer. Polizeiprä­sident Meyer sagt, nach dem Besuch bei F. sei alles überprüft worden, was man an polizeilic­hen und öffentlich­en Quellen über ihn habe finden können, auch im Internet. Nichts, was dabei gefunden wurde, habe die Polizei misstrauis­ch gemacht.

Die Hamburger Waffenbehö­rde erhielt im Januar ein anonymes Schreiben mit einem Hinweis auf F.

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Foto: dpa Ein Mann betet vor dem Gebäude der Zeugen Jehovas im Hamburger Stadtteil Alsterdorf. Bei einem Amoklauf während einer Veranstalt­ung der Zeugen Jehovas sind am Donnerstag­abend mehrere Menschen getötet und einige Personen verletzt worden.
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Foto: dpa Ein Siegel der Polizei klebt am Eingang zum Gebäude der Zeugen Jehovas neben einer beschädigt­en Glasscheib­e.

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