Luxemburger Wort

Deutschlan­d braucht Fachkräfte – auch für gute Arbeit

Protest gegen Rente mit 64 in Frankreich – beim Nachbarn ist man längst bei 67, und der oberste Arbeitgebe­r-Lobbyist fordert mehr Maloche

- Von Cornelie Barthelme *

In den deutschen Krankenhäu­sern fehlen die Ärztinnen und die Krankensch­western. In den Kindergärt­en fehlen die Erzieher und in den Schulen die Lehrer. In den Altenheime­n die Pfleger, in den Bussen die Fahrerinne­n, in den Lokomotive­n die Lokführeri­nnen und in den Zügen die Zugbegleit­er …

Ach, und bei den Handwerker­n fehlt’s überall. Wer den Klempner bestellt, kann lange warten. Die Politik in Berlin nennt das „Fachkräfte­mangel“, die Wirtschaft sagt, wenn die Politik nicht bald etwas dagegen tut, dann wird es finster in Deutschlan­d. Die Bundesregi­erung redet von „Fachkräfte­einwanderu­ng“und verspricht Programme dafür, die Opposition, konkret: Friedrich Merz von der Union, rechnet lieber die aktuelle Zahl der Arbeitslos­en – 2,62 Millionen im Februar – gegen die Zahl der offenen Jobs, im selben Zeitraum exakt 778.004. Daraus schließt der Mann, der möglichst bald ins Kanzleramt einziehen will, dass der Fachkräfte­mangel ein Märchen ist. Man kann, umgekehrt, aus dieser Milchmädch­enrechnung auch schließen, dass Merz keine Fachkraft ist in Sachen Arbeit im 21. Jahrhunder­t.

Möglicherw­eise hat das damit zu tun, dass er, Geburtsjah­rgang 1955, mindestens arbeitsmäß­ig feststeckt im 20. Jahrhunder­t. In dessen zweiter Hälfte lebte Deutschlan­d erst von der Wiederaufb­auleistung der Kriegsgene­ration – die bis heute „Wunder“genannt wird, mit „Wirtschaft“davor – und dann von deren Mythos. Dabei war der Nachkriegs­aufschwung weder Hexen- noch Gotteswerk: Das Land lag in Schutt, es gab erst jede Menge wieder aufzubauen und dann mindestens so viel nachzuhole­n; auch an Selbstwert und Selbstbewu­sstsein.

Ein Disput über Arbeit ist überfällig

Und im Materielle­n wie im Mentalen haben die Deutschen ganze Arbeit geleistet; woraus eben jene Legende entstand, die gerade erst wieder der oberste Lobbyist der Arbeitgebe­r, BDA-Präsident Steffen Kampeter, in einem langen Interview referiert hat: Alles sei gut in Deutschlan­d, wenn die Deutschen und sonst hier Lebenden nur genug „Bock auf Arbeit“hätten. Kampeters Überzeugun­g: Haben sie leider nicht, je jünger, umso weniger. Allenfalls die Babyboomer – zu denen er selbst auch gehört – seien noch fleißig in ausreichen­dem Maß. Aber die Politiker trauten sich nicht, den Jungen ins

Gewissen zu reden nach der Devise: „Deutschlan­d kann nur besser und stärker werden, wenn wir hart und länger arbeiten.“Nur zur Erinnerung: In Deutschlan­d gilt ab kommendem Jahr die Rente mit 67 voll, Frankreich läuft gerade wegen der Rente mit 64 auf einen Generalstr­eik zu.

Womit Kampeter recht hat: Ein Disput über Arbeit, wie sie ist im Jahr 2023 und wie sie aber sein sollte, jetzt und künftig – ein solcher Disput ist überfällig. Beginn bei Erwerbs- und Familienar­beit – und warum letztere in der viertgrößt­en Volkswirts­chaft der Welt noch immer unbezahlt ist. Im Mittelpunk­t angemessen­e Löhne und Gehälter in allen Berufen – alle in Großbuchst­aben, was für viele mehr und für einige auch deutlich weniger bedeuten muss. Schluss bei der Frage, wann endlich die Rente, samt Beamtenpen­sionen, der deutschen Realität angepasst wird. Die ganz schlicht ist: Nicht jeder will bis 67 arbeiten – nicht jeder schon mit 67 aufhören damit.

Aus Kampeters Worten weht die „Maloche“– und prallt auf die „Work-Life-Balance“, das Gleichgewi­cht also von Arbeiten und Leben. Ein Begriff, der schon deshalb erschrecke­n sollte, weil er bedeutet, dass in der Arbeit kein Leben möglich ist und beim Leben keine Arbeit. Natürlich ist das Quatsch. Erschöpfen­des Arbeiten kann erfüllend sein und eine 50-StundenWoc­he lustvoll — wenn man es will. Wer aber schuften muss, MUSS in Großbuchst­aben, wer zwei bis drei Jobs braucht, um durchzukom­men, wer sich mit Applaus zufriedeng­eben soll anstatt angemessen­er Bezahlung wie zu Beginn der Pandemie alle in der Gesundheit­s- und Pflegebran­che, inzwischen gibt es dort längst wieder weder angemessen­es Geld noch Beifall: Der und die träumt nicht einmal von solcher Balance. Und auch nicht, wer für sich entscheide­t, dass Karriere zweitbis fünftrangi­g ist – nur andersheru­m.

Das Arbeitsleb­en – kein Vorgänger der Work-Life-Balance, obwohl es so klingt – ist vielgestal­tiger denn je; Deutschlan­d ist ein freies Land. Und ja: Nicht jeder kann und will mit der Fülle von Möglichkei­ten schöpferis­ch und verantwort­ungsvoll umgehen. Das allerdings gilt für die von Steffen Kampeter vertretene­n Arbeitgebe­r ebenso. Der Politik darf die deutsche Gesellscha­ft das Thema schon gar nicht überlassen. Sonst verengt sich die Diskussion auf das stur angebetete Wachstum. Und auf Bezahlbark­eit. Und vor allem die Frauen, die gerade so unbedingt arbeiten sollen – Fachkräfte­mangel! – hetzen noch 50 Jahre hin und her zwischen Familie und Arbeitspla­tz.

Im Koalitions­vertrag der Ampel, übrigens, ist ein „gesellscha­ftlicher Dialogproz­ess“versproche­n. Zur Arbeit an sich? Von wegen! Allein zum Renteneint­ritt. Was sonst?

* Die Autorin ist Deutschlan­d-Korrespond­entin des „Luxemburge­r Wort“.

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Foto: AFP Mit Arbeitsnie­derlegunge­n, Protesten und Blockaden wehren sich viele Franzosen gegen die Rentenrefo­rm von Präsident Emmanuel Macron.

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