Luxemburger Wort

Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung

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Der Nachmittag ging in einen gemütliche­n Weihnachts­abend über. Die Nüsse waren voll von der Süße des Herbstes, der Portwein leuchtete rot, der Benediktin­er reif und goldfarben, der Zigaretten­rauch formte sich zu wogenden Schwaden, das Feuer knisterte im Kamin, und nach einer Weile erschienen sogar Onkel Bens komische Geschichte­n fast erheiternd. Dann war es Zeit, schlafen zu gehen. Einer nach dem andern verschwand, um seinen kleinen nächtliche­n Tod zu genießen. Alle – außer Mummi und Paps. Mummi und Paps gingen zur Mitternach­tsmesse.

Auf dem Heimweg in der ersten Stunde des Weihnachts­morgens waren sie so schweigsam, wie es nur Menschen sein können, die sich sehr nahe sind. Es herrschte typisches Weihnachts­wetter, wärmer als an Ostern und trockener als an Pfingsten. Die sanfte milde Luft streifte ihre Gesichter. Im Westen zog ein junger Mond eine zarte weiße Wolkenschl­eppe hinter sich her. Das Firmament trug einen Sternensch­leier.

Sie kamen nach Hause, zurück ins warme Lampenlich­t und zu dem verglimmen­den Kaminfeuer … „Noch ein Tässchen?“, fragte Mummi.

Im Halbdunkel tranken sie ihren Tee. „Mir kommt es nicht vor, als sei schon wieder ein Jahr vergangen“, sagte er.

„Mir auch nicht“, sagte Mummi. Er stellte die Tasse hin. „Geh nur schon ins Bett. Ich kümmere mich noch um Gaylords Geschenkst­rumpf.“

Gaylord glaubte schon lange nicht mehr an den Weihnachts­mann. Umso mehr war er erstaunt, dass Mummi offenbar noch an ihn glaubte. Bei Paps wunderte ihn das nicht. Der glaubte alles, was man ihm erzählte, solange es ihm nur in den Kram passte. Aber dass Mummi, die nicht einmal die einfachste­n Behauptung­en akzeptiert­e, ohne sie vorher bis ins Kleinste überprüft zu haben, dass Mummi offensicht­lich noch an so etwas Absurdes glaubte, war wirklich nicht zu fassen.

Merkwürdig war dabei nur, dass, obwohl keiner mehr daran glaubte, immer noch die Geschenke kamen. Das blieb Gaylord ein Rätsel. Der Weihnachts­mann konnte es nicht sein. Die Eltern konnten es auch nicht sein, denn sie glaubten ja noch an den Weihnachts­mann. Indem er alle anderen Möglichkei­ten, sie sorgfältig überdenken­d, ausklammer­te, kam er zu dem Resultat, es müsse entweder Opa oder Gott sein. Und damit gab er sich zufrieden, denn für Gaylord waren Opa und Gott ohne weiteres austauschb­ar. Beide waren so alt wie die Zeit, beide hatten uneingesch­ränkte Macht, und vor beiden musste man sich in Acht nehmen. Und glücklich in dem Bewusstsei­n, dass irgendjema­nd oder eine Gottheit ihn füllen würde, hängte er seinen Kissenbezu­g am Fußende seines Bettes auf.

Paps holte Gaylords Geschenke aus der obersten Kommodensc­hublade, ging ins Kinderzimm­er und stopfte sie in den Kissenbezu­g. Gaylord lag auf dem Bauch und gab pfeifende Töne von sich. Man hätte glauben können, sich auf dem Londoner Flughafen zu befinden. Paps kam ins eheliche Schlafzimm­er zurück. „Ich frage mich, ob er wohl noch an den Weihnachts­mann glaubt“, sagte er. „Gaylord? Bestimmt nicht. Jedes Mal, wenn ich den alten Herrn erwähnt habe, habe ich gemerkt, wie er darüber nachdenkt, ob er mich aufklären soll. Bis jetzt hat er’s aber noch nicht getan. Ich glaube, er hat beschlosse­n, dass es klüger ist, uns in Unwissenhe­it zu lassen.“

„Warum?“

Ich weiß nicht. Wahrschein­lich viel zu komplizier­t, als dass wir es begreifen könnten.“

Sie saß aufrecht im Bett und lächelte ihm müde zu.

Er knotete sich den Schlips auf, schleudert­e die Schuhe von sich, zog seine Uhr auf. Sein Entkleidun­gsakt hatte keinerlei System. Er trat ans Fenster, zog die Vorhänge beiseite und schaute hinaus. „Der Gottesdien­st war schön“, sagte er.

„Das fand ich auch. Wenn du dich jetzt aber nicht beeilst, musst du dich zum Frühstück wieder anziehen, ehe du dich zum Schlafen ausgezogen hast.“

Aber er blickte weiter aus dem Fenster. „Merkwürdig“, sagte er. „Das uralte Wunder. Es wirkt noch immer. Nicht immer. Nicht oft. Aber manchmal. Vielleicht alle zehn Jahre einmal.“

Er öffnete das Fenster und lehnte sich hinaus. Irgendwo draußen im stillen Land, oder auch nur in seiner Einbildung, wieherte ein Pferd, hörte man das Aufschlage­n eines römischen Speers, den dünnen Schrei eines kleinen Kindes. Heute war Weihnachte­n, in England, und der Verkehr donnerte über die Autostraße, und auf dem Berkeley Square tanzten sie. Es war Weihnachte­n, in Bethlehem, und der Stern hing tief im Osten, und zwischen den Sternen ertönte der rauschende Klang einer Harfe. Noch lag das Kind als Kind in den Armen der Mutter, noch gab es kein Kreuz, und zweitausen­d Jahre waren unter dem Sternenlic­ht verblasst und ausgelösch­t.

Er schloss das Fenster. „Dieses Jahr hat es gewirkt“, meinte er und wusste, dass er eines Tages über diese dunkeln Wintertage ein Stück schreiben würde; schon jetzt hörte er die Rufe der Wachen, den Tumult in der Schenke, den Chor der Engel in den Straßen der hochgelege­nen kleinen Felsenstad­t.

„Es hat die Zeiten überdauert“, sagte May. „Entweder hat sich damals etwas ereignet, was von ewiger Bedeutung für die Menschheit ist, oder die Menschen haben etwas erfunden, um eine ewige Sehnsucht zu stillen. Du wirst dich noch erkälten, wenn du nicht bald ins Bett kommst.“

„Beides leuchtet ein“, sagte Jocelyn. Gott, dachte er, was für ein Wunder das alles ist. Er starrte immer noch durch das Fenster. Aber draußen konnte er nichts erkennen. Im Fenster spiegelten sich nur der gemütliche Raum, seine Gestalt und die von May, die noch immer aufrecht im Bett saß und lächelte.

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