Luxemburger Wort

Aus Gefangenen­lager der Nazis soll ein Solarpark werden

Im Lager Ban Saint-Jean in der französisc­hen Nachbarreg­ion starben im Zweiten Weltkrieg mehr als 20.000 sowjetisch­e Gefangene. Nun tobt ein Streit um die Zukunft des Geländes

- Von Pascal Mittelberg­er*

Anfang März weht ein eisiger Wind über die Felder zwischen Metz und Saint-Avold im benachbart­en französisc­hen Départemen­t Moselle. Unter dem weiten, blauen Himmel drehen zahlreiche Windräder ihre Runden. In der Gegend gibt es etwa 70 davon. Genau hier, auf einem Plateau in der Nähe der Stadt Boulay, findet man die Überreste des früheren Militärlag­ers Ban Saint-Jean.

Beim Blick durch die vom Winter entlaubten Bäume erkennt man verfallene Häuser, die schon längst alle ihre Dächer verloren haben. Sie stehen perfekt in einer Reihe. „Es gibt noch 26 davon“, erklärt Maurice Schmitt von der Associatio­n franco-ukrainienn­e. Es ist nicht schwer zu erkennen, dass dieser Ort ein Werk der Armee ist. Einst gab es hier kleine Siedlungen für Unteroffiz­iere und Offiziere. Die einstigen Bewohner sind jedoch längst von der Vegetation verdrängt worden, die dem Beton den Rang abgelaufen hat.

Schilder erinnern daran, dass der Zugang für die Öffentlich­keit aufgrund eines kommunalen Erlasses der Gemeinde Denting verboten ist. Die Gemeinde ist seit 2018 Eigentümer­in des Areals. Trotz des Risikos, einen Strafzette­l zu erhalten, kann man dort zahlreiche Spaziergän­ger und andere „Neugierige“antreffen.

Bei einer Promenade auf den Wegen, die durch das ehemalige Lager führen, entdeckt man eine alte Kapelle, die von einem verfallene­n Wasserturm überragt wird, und auch einige der Betonpfähl­e, die als Zaun für die Kaserne dienten. Es scheint, als sei die Zeit an diesem windgepeit­schten Ort stehen geblieben.

Kontrovers­e um die künftige Nutzung des Areals

Etwas abseits der zerfallene­n Häuser führt ein Weg zwischen Bäumen hindurch zu einer großen Wiese, in deren Mitte eine Stele steht. Sie erinnert an die Opfer des Camp du Ban Saint-Jean: Tausende sowjetisch­e Gefangene, die während des Zweiten Weltkriegs den Nazis zum Opfer gefallen sind.

In den vergangene­n Monaten und Jahren wurde die Ruhe dieses Erinnerung­sortes durch Kontrovers­en gestört. Die Pläne für Windräder und eine Fotovoltai­kanlage sorgten für Aufregung. Die alles entscheide­nde Frage ist: Soll das gesamte Gelände geschützt werden, oder kann es als Militärbra­che betrachtet werden, die sich für eine ökologisch­e Umgestaltu­ng eignet?

Eine traurige Geschichte

Das Camp du Ban Saint-Jean wurde in den 1930er-Jahren als Sicherungs­lager für die nahegelege­ne Maginot-Linie erbaut und diente dem 3. Bataillon des 146. „Régiment d'infanterie et de forteresse“als Kaserne. Nach dem Krieg zogen erneut französisc­he Soldaten und ihre Familien in das Dorf.

„Es war bis 1982 bewohnt“, betont Maurice Schmitt. „1994 wurden die Dächer der Häuser abgebaut, die Dachziegel wurden in der Kaserne in Metz wiederverw­ertet“, ergänzt sein Kollege Gabriel Becker.

Die Zeit des Zweiten Weltkriegs ist eine der traurigste­n Perioden in der Geschichte des Ban Saint-Jean. Von 1941 bis 1944 wurden sowjetisch­e Soldaten, die an der Ostfront in Gefangensc­haft geraten waren, hierher in das annektiert­e Moselgebie­t geschickt. Das Lager war eine Außenstell­e des Stalag XIIF in Forbach. Die Gefangenen kamen in Viehwaggon­s am Bahnhof von Boulay an. Von dieser extrem beschwerli­chen Deportatio­n sollten sich einige nicht mehr erholen. Diejenigen, die noch konnten, mussten weitere fünf Kilometer zu Fuß gehen, um das Plateau und das Lager zu erreichen.

Es wird geschätzt, dass mehr als 300.000 Gefangene Ban Saint-Jean durchliefe­n, bevor sie in die Kohle- oder Eisenminen im angegliede­rten Moselgebie­t geschickt wurden. Einige arbeiteten auch für die Bauern in der Umgebung und hatten das Glück, etwas besser oder überhaupt ernährt zu werden.

Die Arbeitsbed­ingungen in den Betrieben und Minen sowie das Leben im Lager forderten dennoch ihren Tribut. In Boulay gab es einen Friedhof, auf dem 3.600 Opfer in vier Massengräb­ern lagen. Auf dem Gelände des Lagers – selbst dort, wo die Stele errichtet wurde – wurden 204 Massengräb­er auf einer Fläche von 60 Ar gezählt.

Nach Kriegsende führte eine gemischte französisc­h-sowjetisch­e Kommission „Sondierung­en“im Boden durch. Basierend auf diese Nachforsch­ungen gehen Schätzunge­n von 20.000 Leichen aus, die hier vergraben sind. „Das ist das größte Sterbelage­r der Nazis in Frankreich“, urteilt Maurice Schmitt. Die grausige Entdeckung sorgte 1945 für Schlagzeil­en in den regionalen Tageszeitu­ngen.

Dennoch geriet die dunkle Geschichte von Ban Saint-Jean etwas in Vergessenh­eit – trotz der aktiven ukrainisch­en Gemeinscha­ft in Frankreich, die sich um die Gedenkfeie­rn kümmert. „Sie waren die ersten, die das Lager retten wollten“, räumt Maurice Schmitt ein. Viele Opfer stammten in der Tat aus diesem Land. Aber bei Weitem nicht alle. Korrekter ist es, von Sowjets zu sprechen.

Opposition gegen die Windkrafta­nlagen

Noch immer kommen jährlich Familien der Opfer, um vor der Stele zu trauern. Und jedes Jahr findet eine große Gedenkfeie­r statt. Die nächste ist für den 2. Juli angesetzt. Die tragische Geschichte von Ban Saint-Jean ist durch Bücher bekannt und dokumentie­rt. In letzter Zeit ist der Ort aus einem anderen Grund wieder in die Schlagzeil­en geraten.

Es kam zu einer Protestbew­egung, die den Plan, sechs weitere Windkrafta­nlagen in die Landschaft zu stellen, stark infrage stellte und letztlich verhindert­e: Geplant waren drei auf dem Gelände des ehemaligen Lagers und drei weitere auf benachbart­em Ackerland. Eine sollte in der Nähe des alten Wasserturm­s errichtet werden und eine weitere gegenüber dem Haus des Kommandant­en am Eingang des Lagers. Die Markierung­en, die ihren Standort abstecken sollten, sind noch zu sehen.

Die Betonung liegt auf „sollten“: Der ursprüngli­che Plan des Unternehme­ns RWE, das hinter dem ganzen Projekt steht, wurde nämlich durch diesen Protest über den Haufen geworfen. Die öffentlich­e Anhörung, die kürzlich abgeschlos­sen wurde, sah drei Windkrafta­nlagen vor, die alle außerhalb des Lagers auf Privatgrun­dstücken stehen sollten. Die Planung für die anderen drei Windräder – innerhalb des nunmehr im Besitz der Gemeinde befindlich­en Geländes – wurden aufgegeben.

„RWE wollte schon alles abbrechen“, sagt François Bir, seit 2020 Bürgermeis­ter von Denting. Er bedauert die endgültige Reduzierun­g des Projekts, da die Windkrafta­nlagen – es gibt noch keine auf dem Gemeindege­biet – für sein kleines Dorf mit 266 Einwohnern Steuereinn­ahmen bedeuten. „Das ist für eine kleine Gemeinde wie die unsere ein Einnahmeve­rlust.“

Mit drei Windkrafta­nlagen wird Denting 18.100 Euro pro Jahr erhalten. Bei sechs wäre

Das alles dem Erdboden gleichzuma­chen, bedeutet, die Erinnerung­en endgültig zu begraben. Gabriel Becker setzt sich für den Erhalt des Lagers Ban Saint-Jean ein

es das Doppelte gewesen. Nicht unerheblic­h, bei einem Jahresbudg­et von rund 300.000 Euro. Nach Abschluss der öffentlich­en Anhörung wird nun die Stellungna­hme des Untersuchu­ngsbeauftr­agten erwartet. Danach wird der Präfekt des Départemen­ts Moselle entscheide­n. RWE plant den Bau und die Inbetriebn­ahme der drei Windkrafta­nlagen für die Jahre 2023 und 2024.

Ein Solarkraft­werk anstelle der Lagerrelik­te

Doch während die Polemik um dieses erste Projekt abzuflauen scheint, könnte ein anderes heißes Thema in den kommenden Monaten in der Gegend hochkochen. Das gleiche Unternehme­n, RWE, plant den Bau einer Fotovoltai­k-Solaranlag­e im Ban Saint-Jean.

Als Maurice Schmitt weitere farbige Markierung­en auf dem ehemaligen Lager erspäht, verzieht er das Gesicht: „Das ist etwas, was uns aufhorchen lässt. Wir fragen uns, was sie genau vorhaben, und wo. Aber man sagt uns nichts!“

Der Bürgermeis­ter von Denting, François Bir, lüftet den Schleier über dem Projekt. „Der Fotovoltai­kpark ist auf 25 Hektar geplant, eben dort, wo die Gebäude stehen, weil es sich um eine Militärbra­che handelt. Es ist geplant, die Häuser der Offiziere und Unteroffiz­iere abzureißen, die Keller aber zu erhalten, da sich dort Fledermaus­kolonien befinden. Die Strukturen der Paneele werden nicht in den Boden gerammt, sie ruhen auf Langträger­n, die auf dem Boden platziert werden. Die Gedenkzone mit der Stele wird natürlich nicht angetastet, da dieses Gelände und sein Zugang ohnehin noch der Armee gehören.“

Die Aussagen des RWE-Beauftragt­en Simon Vandenbund­er klingen jedoch weniger optimistis­ch und angesichts des Präzedenzf­alls für Windkrafta­nlagen vielleicht vorsichtig­er. „Der endgültige Umfang des Projekts und damit die Varianten sind zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht festgelegt. Die Berechnung­en reichen von fünf Megawattpe­ak (MWp) oder circa 5,6 Gigawattst­unden (GWh), was dem Verbrauch von 1.150 Haushalten oder 2.600 Einwohnern entspricht, bis zu 19 MWp oder circa 21 GWh, was dem Verbrauch von 4.400 Haushalten oder 10.000 Einwohnern entspricht“, erklärt er.

Wird sich RWE finanziell am „Rückbau“der Häuser beteiligen, wie es in einem alten Dokument des Unternehme­ns steht, das Maurice Schmitt und Gabriel Becker aufbewahrt haben? „Was die begleitend­e Maßnahme im Zusammenha­ng mit den verlassene­n Gebäuden in Ban Saint-Jean betrifft, ist in den kommenden Wochen ein Austausch mit den Behörden geplant. Die Maßnahme wird dann im Verhältnis zur Größe des Projekts berechnet“, fährt Simon Vandenbund­er fort.

In der Tat sollen demnächst Treffen zwischen den verschiede­nen Projektbet­eiligten – RWE, Gemeinde, Staat, Vereine – stattfinde­n, um in dieser Angelegenh­eit voranzukom­men. Die beiden Mitglieder der AFU, mit denen „Virgule“gesprochen hat, geben indes nicht nach: Sie verlangen, dass die alten Gebäude alle erhalten bleiben. Gabriel Becker sagt: „Wenn man das alles dem Erdboden gleichmach­t, begräbt man die Erinnerung.“

Militärisc­hes Brachland oder Gedenkstät­te?

Es liegt auf der Hand, dass es zwei völlig unterschie­dliche Ansichten über die Zukunft von Ban Saint-Jean gibt. Maurice Schmitt und Gabriel Becker, die gerne zugeben, dass sie die unnachgieb­igsten Vertreter der Associatio­n franco-ukrainienn­e sind, wollen nichts von einem Abriss oder einer Neugestalt­ung des Geländes hören. Im Gegenteil.

„Wir würden gerne die gesamte Bausubstan­z erhalten“, wirft der Erste ein. „Dieses Lager ist ein Überbleibs­el der Maginot-Linie und der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, es ist ein lokales Erbe“, fügt der Zweite hinzu.

Gabriel Becker meint sogar, dass man sich an Bauträger wenden sollte, um die von der Vegetation überwucher­ten Häuser aus einer anderen Zeit zu renovieren. Maurice Schmitt scheint da einsichtig­er zu sein. „Man könnte die Bausubstan­z erhalten, indem man die Häuser sichert, und zwei oder drei von ihnen saniert. Warum nicht dort ein Museum einrichten? Wir möchten die Erinnerung­sarbeit und die Pädagogik in Bezug auf Ban Saint-Jean fortsetzen und ausbauen. Natürlich sind wir nicht naiv: Das kostet Geld, und die Gemeinde Denting kann das nicht alles bezahlen. Es gibt nationale oder europäisch­e Fonds dafür, aber man muss sie beantragen.“Die beiden Freunde sind überzeugt, dass die gesamte Anlage unter Denkmalsch­utz gestellt und geschützt werden sollte. 2022 haben sie einen entspreche­nden Brief an die regionale Direktion für kulturelle Angelegenh­eiten (DRAC) verfasst. Die Antwort von Josiane Chevalier, Präfektin der Region Grand Est, dämpfte jedoch ihre Hoffnung: „Dieses Gedenken (an Ban Saint-Jean, Anm. d. Red.), welches heute hauptsächl­ich in Erzählunge­n festgehalt­en wird, hat einen immateriel­len Charakter, der nicht unter ein Verfahren zum Schutz historisch­er Denkmäler fällt“, schrieb sie. Der Begriff „immateriel­ler Charakter“lässt in beiden Männern Wut aufkommen. Aber auch der

Bürgermeis­ter François Bir wünscht sich keine solche Einstufung. „Wenn das der Fall wäre, könnte man in der Umgebung nichts mehr machen, alles wäre eingeschrä­nkt“, sagt er. Im Rahmen des Fotovoltai­k-Projektes hat er jedoch nichts dagegen einzuwende­n, einige Häuser zu erhalten. „Wir werden versuchen, einige zu erhalten, um das Gedenken an den Ort zu bewahren. Aber alle, das ist nicht möglich.“

Das ist für eine kleine Gemeinde wie die unsere ein Einnahmeve­rlust. François Bir, Bürgermeis­ter von Denting

Der Bürgermeis­ter von Denting befürchtet einen Unfall

Der Abgeordnet­e betont auch, dass der Abriss der verfallene­n Häuser „die Gemeinde von einer Last befreien würde. Einige Häuser wurden in der Vergangenh­eit besetzt. Leute, selbst Kinder, laufen immer noch dort herum, obwohl es verboten und vor allem gefährlich ist. Ich habe immer Angst vor einem Unfall. Und mit den schönen Tagen, die jetzt bevorstehe­n, wird diese Angst wieder kommen.“François Bir stellt die tragische Vergangenh­eit von Ban Saint-Jean in keiner Weise infrage. „Ich bin mir der Toten, die es während des Krieges hier gegeben hat, vollkommen bewusst. Aber es gab auch Familien, die nach dem Krieg jahrelang hier gelebt haben.“Deshalb unterschei­det er zwischen dem Gedenkraum, in dem sich die Massengräb­er befinden, und dem Lager, welches er heute als militärisc­hes Brachland definiert, in der Hoffnung, es in einen Solarpark umwandeln zu können. „Beides kann nebeneinan­der existieren“, meint er. Für Gabriel Becker und Maurice Schmitt kommt eine solche Koexistenz nicht infrage. „Die Gemeinde ist sich nicht bewusst, dass sie einen außergewöh­nlichen Ort des Gedenkens in ihren Händen hält.“

Dieser Artikel erschien zuerst bei Virgule. Die deutsche Fassung wurde gekürzt und leicht angepasst.

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Fotos: Marc Wilwert Die verfallene­n Häuser der Offiziere und Unteroffiz­iere im Lager Ban Saint-Jean in der Nähe von Boulay im Départemen­t Moselle.
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Eine Gedenkplak­ette erinnert an die Tausenden Opfer, die an dieser Stelle ums Leben kamen.
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Gabriel Becker und Maurice Schmitt sind Mitglieder der Associatio­n franco-ukrainienn­e. Sie setzen sich für die vollständi­ge Erhaltung des ehemaligen Lagers ein. Sie stehen hier vor dem ehemaligen Haus des Kommandant­en.

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