Luxemburger Wort

Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung

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Aber aus einem Glas Port konnte man das. Er tat es und schenkte sich wieder ein.

Die Tür ging auf. Gaylord schlüpfte herein. „Ich habe scheußlich geträumt“, sagte er. „Ich auch“, sagte Paps.

„In meinem Traum kamen Tiger und Löwen vor“, berichtete Gaylord. „Wovon hast du geträumt?“

Nur von der Zukunft und der Vergangenh­eit“, sagte Paps.

„Ich wette, das war nicht so schlimm wie meine Tiger und Löwen“, sagte Gaylord.

Das kann schon sein“, sagte Paps. „Aber es war schlimm genug.“

Gaylord machte es sich in dem Sessel Paps gegenüber bequem, die Hände in den Taschen seines Morgenrock­s vergraben, die Beine weit gespreizt. In der Haltung eines Erwachsene­n bei einem Männergesp­räch. Es war die Haltung eines selbstbewu­ssten Studenten, eines Mittfünfzi­gers im Club, eines alten, müden Mannes. Paps erblickte zum ersten Mal hinter dem kleinen Jungen den erwachsene­n Mann. Noch ein paar Jahre weiter, und Gaylord würde eine Frau in den Armen halten, sich mit anderen Männern messen, seinen Portwein trinken und sich Sorgen machen, was mit Mummi und Paps geschehen sollte, die nicht mehr die Jüngsten waren.

Gaylords Augen waren hell und wach, aber die späte Stunde verlieh ihnen einen Ausdruck von Weisheit und Verstehen, der bei einem Kind befremdlic­h war. Paps betrachtet­e seinen ernsten, erwachsene­n, kräftigen Sohn, und er spürte, dass dies ein seltener Augenblick der Freundscha­ft und Liebe war, in dem es vielleicht endlich einmal keine Schranken mehr zwischen ihnen gab.

„Hör mal, alter Knabe“, sagte er. „Deine Mutter macht sich große Sorgen um dich. Was ist eigentlich am Weihnachts­tag passiert?“

Paps nannte Gaylord nicht oft „alter Knabe“. Aber wenn er das tat, fing Gaylords Gehirn fieberhaft an zu arbeiten. Alarmglock­en schrillten, und alle Signale schalteten auf Rot. Der arme Paps hatte keine Chance. „Nichts“, sagte Gaylord und blickte Paps dabei mit seinen langbewimp­erten, ernsten, ehrlichen schwarzen Augen an.

„Ich dachte, du würdest es mir vielleicht erzählen“, sagte Paps.

„Ich bin nur spazieren gegangen. Dann bin ich wieder nach Hause gekommen.“

„Soso“, sagte Paps und starrte ins Feuer. „Du bist also spazieren gegangen und dann wieder nach Hause gekommen.“Er seufzte.

„Ja, genau“, sagte Gaylord. Er sah seinen Vater an. Es kam eigentlich selten vor, überlegte er, dass man Paps etwas fragte, ohne eine alberne Antwort zu bekommen.

Aber heute Nacht, das spürte er, könnten die Schranken vielleicht geöffnet sein. „Wann kommt der andere Gaylord?“, fragte er.

„Der was?“Paps sah verblüfft aus. Nach einer halben Flasche Port konnte er nicht mehr genau sagen, welche Fragen Sinn hatten und welche keinen, aber diese, das

fühlte er, diese hatte keinen Sinn. „Der andere Gaylord. Du hast doch zu Mummi gesagt: ,Nicht noch einen Gaylord.‘“

„Das solltest du gar nicht hören“, sagte Paps. Gaylord machte ein verschmitz­tes Gesicht.

„Mummi bekommt wieder ein Baby“, sagte Paps.

„Diese Erklärung hatte Gaylord gefürchtet. Er war gekränkt. In einer Angelegenh­eit, die ihn so unmittelba­r betraf, hätte man ihn doch wenigstens fragen können.

„Ich muss doch nicht etwa mit ihm spielen?“, fragte er.

„Wahrschein­lich wirst du das wollen“, sagte Paps ohne große Überzeugun­g. Philoproge­netik war nicht gerade seine Stärke. Bei Babys dachte er eher an Windeln und die Sechs-Uhr-Flasche als an den Fortbestan­d des Lebens und das Gesegnet-ist-der-Mann-derviele-Kinder-hat.

Gaylord saß mit halbgeschl­ossenen Augen da. Einen hoffnungsv­ollen Augenblick lang dachte Paps, er würde einschlafe­n. Aber dann öffneten sich die Augen wieder weit, und Gaylord sagte: „Wo kriegt ihr eigentlich die Babys her?“

O Gott, dachte Paps, jetzt hat’s mich erwischt. Er hatte immer gehofft, dass im entscheide­nden Augenblick Mummi das Opfer sein würde. Aber sie war es nicht.

Er war es. Und das eine Viertelstu­nde nach Mitternach­t und auf einen Ozean von Portwein.

Mummi hatte aber immer wieder gesagt, dass man Fragen furchtlos und offen beantworte­n müsse. So sagte er furchtlos und offen: „Sie kommen aus dem Leib der Mutter.“

Gaylord lachte vergnügt. „O Paps, bist du aber komisch“, schrie er anerkennen­d.

Paps sagte: „Ich bin gar nicht komisch! Das ist die Wahrheit.“

Aber Gaylord bog sich noch immer vor Lachen in seinem Sessel. Jocelyn hatte schon lange nicht mehr eine so erfolgreic­he Bemerkung gemacht. Nur war diese ja eigentlich gar nicht komisch gewesen. Er erklärte weiter: „Ein Baby ist wie eine Eichel. Es wächst neun Monate im Leib der Mutter und wird dabei immer größer und kräftiger. Dann wird es geboren und beginnt sein eigenes Leben.“

Gaylord wurde langsam wieder ernst. Er sah jetzt nachdenkli­ch aus. „Paps …“, begann er.

„Ja, Gaylord?“, sagte Paps, auf alles gefasst. Jetzt wird er gleich nach den Details dieses Vorganges fragen, dachte er. Und das war die Quiz-Preisfrage. Krampfhaft versuchte er sich daran zu erinnern, wie das in den Aufklärung­sbüchern dargestell­t wurde.

Gaylord runzelte die Stirn. „Paps, kannst du mir sagen, wie es der Mann fertigbrac­hte, seiner Frau zu Weihnachte­n ein Rebhuhn auf einem Birnbaum zu schenken?“

„Also, willst du nun, dass ich dich aufkläre, oder nicht, Gaylord? Verdammt noch mal!“, sagte Paps verbittert. Er als Junge war mit unersättli­cher Neugier hinter diesem Thema her gewesen. Aber ihm hatte man immer nur Geschichte­n von Störchen und Teichen aufgetisch­t. Und Gaylord, dem man die Tatsachen furchtlos und offen auf einem Tablett präsentier­te, zeigte dafür nicht das geringste Interesse. Es war nicht zu fassen.

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