Eine Topografie der Kreuzverhüllungen in Luxemburgs Kirchen
In vielen Kirchen werden zwischen dem 5. Fastensonntag und Karfreitag die Altarkreuze verhüllt. Was es mit dieser Tradition auf sich hat
In vielen Kirchen werden zwischen dem 5. Fastensonntag und Karfreitag die Altarkreuze verhüllt. Dieser Brauch geht auf eine jahrhundertealte Tradition zurück und nimmt in der Dramaturgie der Fastenzeit einen besonderen Stellenwert ein. Doch warum werden auf den sozusagen letzten „100 Metern“vor der Passion Christi die Kreuze verhüllt? Wie steht es um die Kreuzverhüllung in Luxemburgs Kirchenräumen? Und klingt es nicht geradezu paradox, das Kreuz nur wenige Tage vor dem Beginn der Leidensgeschichte Christi zu verhüllen?
Ein schleierhafter Brauch
Dabei geht es um ein „Fasten für die Augen“, sich bewusst mit der Passion und dem sichtbaren Zeichen der Christen – dem Kreuz – auseinanderzusetzen. Einen „D-Day“der Kreuzverhüllung sucht man vergebens, aber der Brauch, ein meist violettes Tuch – violett ist die liturgische Farbe während der 40-tägigen österlichen Bußzeit – über das Kreuz im Altarraum zu stülpen, geht zurück auf das frühe Mittelalter.
Die wohl älteste Auslegung der Verhüllung des Antlitzes Christi am Kreuz liefert im 13. Jahrhundert Durandus von St. Pourçain, Bischof von Meaux. Er deutet die Verhüllung der Kreuze allegorisch auf eine Stelle im Johannesevangelium, die den Abschluss der Streitgespräche Jesu mit den Juden bildet. Dort heißt es: „Da hoben sie Steine auf, um sie auf ihn zu werfen. Jesus aber verbarg sich und verließ den Tempel“(Joh 8,59).
Wenn der Ursprung der Kreuzverhüllung schleierhaft bleibt, so wird die liturgische Praxis der Kreuzverhüllung in dem Messbuch von 1570 offiziell bestätigt: „Vor der ersten Vesper des Passionssonntages werden die Kreuze und Bilder verhüllt.“Der Passionssonntag ist der Sonntag vor Palmsonntag: als sogenannter „Elle-Sonndeg“ist der kommende Sonntag Synonym für das „schmerzvolle Präludium zum Erlösungsdrama Christi, wo die Altarbilder und Kreuze mit dunklen Tüchern verhüllt werden“(Luxemburger Wort vom 16. März 1934).
Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) wird die Verhüllung am 5. Fastensonntag nicht mehr als verpflichtend angesehen, sondern lediglich empfohlen. Jenseits der Mosel plädiert die katholische Kirche, den Brauch, Kreuze und Bilder bis zum Ende der Karfreitagsliturgie zu verhüllen, weiterhin beizubehalten.
Verhüllt oder enthüllt
Interessant ist der Blick in Luxemburgs Kirchenräume in den kommenden Tagen, wo die Kreuzverhüllung zum Teil heterogen interpretiert und visualisiert wird. Und weil der Brauch in den verschiedenen Kulturräumen Europas unterschiedlich praktiziert wird, so reflektiert die multinationale Kirche Luxemburgs ein Stück weit ein multivisuelles Fasten. In den Pfarreien Kordall Sainte-Barbe und Déifferdeng Saint-François d’Assise beispielsweise wird die Kreuzverhüllung bis auf den heutigen Tag praktiziert. In Differdingen Fousbann wird das in der Mauer eingefasste Kreuz mit einem Tuch, „das aus einem uralten violetten Messgewand geschneidert wurde“, verhüllt, erklärt Dechant Jean-Pierre Reiners, der in Niederkorn das Kreuz im Altarraum selber verhüllt. In Bascharage und Petingen werden eigens hölzerne Kreuze im Altarraum aufgestellt, die verhüllt werden.
Den Brauch der Kreuzverhüllung hat man in Echternach wiederentdeckt, als der Künstler Johannes Nagel im vergangenen Jahr ein neues Hänge-Kreuz mit einem vermutlich aus Nordfrankreich stammenden und rund 500 Jahre alten Christus-Corpus für den Hochaltar der Echternacher Basilika geschaffen hat. „Et ass eigentlech eng Traditioun, déi ech perséinlech déi lescht 25 Joer net praktizéiert hunn. Eréischt wéi mir dat neit Kräiz d’läscht
Joer an der Faaschtenzäit kritt hunn, hunn ech mech nees drun erënnert“, verrät Pfarrer Francis Erasmy, Rektor der Echternacher Basilika.
Eine Seilwinde kommt zum Einsatz
Zusammen mit den beiden Küstern und einigen Ehrenamtlichen wird er an diesem Wochenende mittels einer Seilwinde das in traditioneller Schmiedetechnik verarbeitete Kreuz herablassen, verhüllen und – aus logistischen Gründen aufgrund des Gewichts des Kreuzes – vor der Karfreitagsliturgie enthüllen. In seiner Predigt am „Elle-Sonndeg“und in der Kindermesse am Mittwoch, 29. März, um 18.30 Uhr wird Pfarrer Francis Erasmy das Kreuz inklusive Verhüllung erklären.
In Roodt-Syre wird das große Missionskreuz aus dem 19. Jahrhundert erst an Palmsonntag verhüllt, weiß Pfarrer Guy Diederich zu berichten: „Bei iis zu Rued gëtt d'Kräiz, entgéint der Traditioun an der liturgescher Virschrëft, eréischt um Pällemsonndeg zougedeckt.“Interessanterweise bildet die Verhüllung das violette Altartuch, das der Priester und die Messdiener nach dem Messopfer über das Kreuz neben den Kreuzwegstationen hängen werden.
Weil der Brauch in den verschiedenen Kulturräumen Europas unterschiedlich praktiziert wird, so reflektiert die multinationale Kirche Luxemburgs ein Stück weit ein multivisuelles Fasten.
Im französischen Raum weniger verbreitet
In vielen Kirchen und Pfarreien unseres Landes wird die Kreuzverhüllung nicht (mehr) praktiziert. In der Benediktinerabtei in Clervaux werden keine Kreuze verhüllt. „Weder in der Kirche noch im Refektorium oder an einem anderen Ort im Kloster“, erklärt Öko
nom Michael Jensen, der auf den französischen Ursprung des Klosters verweist, wo die Kreuzverhüllung weniger verbreitet ist als im deutschsprachigen Raum. Das über dem Altar hängende Kreuz wird lediglich nach der Messe an Gründonnerstag aus der Kirche entfernt. „Damit es keine Konkurrenz der Kreuze gibt, wenn der Abt an Karfreitag mit dem Kreuz für die Verehrung in die Kirche einzieht“, so der Benediktinerpater.
Dass in Luxemburgs Kirchen viele Kreuze nicht verhüllt werden, hat oftmals praktische Gründe, weil es an starken, schwindelfreien Ehrenamtlichen fehlt, die Kreuze zu verhüllen. So wird beispielsweise auf die aufwändige Verhüllung der 2,90 Meter großen Christus-Figur in der Heilig-Geist-Kirche in Luxemburg-Cents verzichtet. Auch das Manipulieren des in Email gefassten Kreuzes des Künstlers Egino Weinert in der St. Jakobuskirche in Roodt-Syre ist eine logistische Herausforderung, die nicht mehr gestemmt werden kann. Pfarrer Guy Diederich bedauert, dass die Rückseite des Kreuzes so nicht mehr sichtbar wird.
Und das ist ein Stück weit das Geheimnis der Kreuzverhüllung: Das Sichtbare unsichtbar machen, denn „für viele Christen liegt ein Schleier über dem Kreuz des Herrn, der alle in der Liebe zur Einheit sammeln will“, wie das Luxemburger Wort zum Passionssonntag 1964 schrieb.
Messbuch von 1570