Die „Spezialoperation“kommt in den Köpfen der Russen an
Die Ukrainer beschießen die russische Stadt Belgorod, russische Z-Blogger fordern im Gegenzug die Eroberung Charkiws. Aber tatsächlich drehen sich die Kriegsziele beider Seiten im Kreis
Die Atmosphäre in der Stadt habe sich grundlegend geändert. Früher hätte es im Stadtzentrum nie freie Parkplätze gegeben, jetzt sei Parken kein Problem, erzählt Swetlana aus Belgorod dem TV-Kanal Doschd. „Ohne Notwendigkeit gehen die Leute nicht auf die Straße, nur zur Arbeit oder zum Einkaufen.“Und die städtischen Behörden rieten allen, mindestens drei Druckverbände zur Stillung starker Blutungen bei sich zu tragen. Die letzte Nacht sei eher ruhig gewesen, man habe nur das Feuer der eigenen Geschütze gehört.
Dafür krachte es am Donnerstag in Charkiw umso lauter. Zwei russische Raketen trafen wieder einmal ein Hotel, 13 Menschen wurden verletzt. Die russische 350.000-Seelen-Stadt Belgorod und das nur 70 Kilometer entfernte ukrainische Charkiw, vor dem Krieg lebten dort 1,5 Millionen Menschen, machen seit Wochen blutige Schlagzeilen. Spätestens seit dem 30. Dezember, als in Belgorod bei einem Raketenangriff 25 Menschen getötet wurden. Am Vortag hatte Russland seinen bisher größten Luftangriff gegen Kiew und andere ukrainische Städte veranstaltet, dabei waren 53 Ukrainer umgekommen.
Seitdem häufen sich nicht nur russische Feuerschläge gegen Charkiw und ukrainische gegen Belgorod. Russlands militärpatriotische Öffentlichkeit hat Charkiw jetzt auch als Ziel einer neuen Großoffensive ausgelobt.
Die Front soll verschoben werden
Am Dienstag versicherte Kremlsprecher Dmitrij Peskow, Russlands Soldaten würden alles tun, um die Gefahr neuer Beschüsse Belgorods „zu minimalisieren und dann völlig zu beseitigen“. Danach schlugen Z-Blogger zunächst vor, die Front 15 Kilometer von der Grenze Richtung Südwesten zu verschieben. Aber angesichts der 70 Kilometer Reichweite ukrainischer OlchaRaketen, die gegen Belgorod zum Einsatz gekommen waren, korrigierte Moskaus Kriegerszene ihre Forderungen schnell nach oben. Es sei nötig, die ukrainische Armee in der Region Charkiw möglichst weit zurückdrängen, schrieb das Portal „EurAsia Daily“. „Das aber bedeutet auch, Charkiw selbst unter Kontrolle zu bringen.“
Allerdings scheiterte schon im Februar 2022 der Versuch, Charkiw im Handstreich zu nehmen, ebenso die mehrmonatige Belagerung danach. Jetzt sind die Russen wieder an mehreren Frontabschnitten in der Offensive, unter anderem bei Kupjansk im Osten der Region Charkiw. Aber mit ähnlich begrenztem Erfolg wie die ukrainische Armee mit ihrem Großangriff im Sommer. „Russlands Streitkräfte sind zurzeit wohl nur zu Aktionen auf taktischer Ebene aus der Region Belgorod Richtung Charkiw fähig, um die Ukrainer von einem möglichen operativen Versuch in Richtung Kupjansk abzulenken“, schreibt das US-Kriegsforschungsinstitut ISW. Von einem strategischen Durchbruch spricht niemand. Laut dem ukrainischen Militärexperten Sergij Grabskij müsste Russland für einen umfassenden Angriff auf Charkiw eine ganze Gruppierung neu aufstellen. „In den nächsten drei bis sechs Monaten ist eine solche Drohung nicht zu erwarten.“
Und der russische Telegramkanal „VoenkorKotenok“verweist auf ukrainische Raketenangriffe gegen die Krim. Um Kaliber solcher Reichweite von Belgorod fernzuhalten, müsse Russland außer Charkiw auch die nordukrainischen Regionen Sumi und Tschernihiw besetzen. Und am besten sei es überhaupt, „das Ungeheuer in seiner Hölle zu erlegen“, also Wolodymyr Selenskyj und seine Regierung in Kiew.
Suche nach neuen Kriegszielen
Experten beziffern die Frontveränderungen 2023 in Promille des umkämpften Territoriums.
Dafür aber müsste Wladimir Putin nach den Präsidentschaftswahlen Mitte März zuerst einige hunderttausend neue Soldaten mobilisieren. Und der Westen müsste seine Waffenlieferungen an Kiew mehr oder weniger komplett einfrieren. Trotz des seit Monaten im US-Senat klemmenden Beschlusses über ein 61 Milliarden US-Dollar-Hilfspaket, lassen die eine Million Artilleriegeschosse, die EU-Verteidigungskommissar Thierry Breton der Ukraine nun bis April versprochen hat, das nicht vermuten. Wolodymyr Selenskyj aber verkündete am Mittwoch, Wladimir Putin werde auch nach einem Fall der Ukraine keine Ruhe geben, das Baltikum, die Moldau, vielleicht auch Finnland bedrohen. Deshalb gelte es, „Schluss mit Putin zu machen“.
Die Suche nach neuen Kriegszielen dreht sich auf beiden Seiten im Kreis, gleichzeitig beziffern Experten die Frontveränderungen 2023 in Promille des umkämpften Territoriums. Bleiben der Raketenkrieg, in dem die Ukraine jetzt zurückschlägt, vor allem gegen Belgorod.
Swetlana aber erzählt, in der Stadt gehe das Gerücht um, ein Angriff auf Charkiw stehe bevor, vielleicht am 15. Januar. „Die Leute haben alle große Angst, sie denken darüber nach, wie sie das alles überleben können.“Zumindest in Belgorod ist der Krieg in den Köpfen der Russen angekommen.