Die Revanche eines Unterschätzten
Nur wenige trauen Nicolas Schmit zu, sich bei den Europawahlen als EU-Spitzenkandidat der Sozialdemokraten durchzusetzen. Doch der Luxemburger ist es gewohnt, unterschätzt zu werden
„Nicolas Who?“titelte das EU-Insider-Magazin „Politico“, als klar wurde, dass der Luxemburger Nicolas Schmit Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokraten werden würde. Andere internationale Medien reagierten ähnlich verhalten. Schmit sei jenseits Luxemburgs und der Brüsseler EU-Blase kaum bekannt, lästert „Il Foglio“aus Italien. Mit dem LSAP-Politiker als Spitzenkandidat, „scheinen die Sozialdemokraten ihre Hoffnungen auf die Kommissionspräsidentschaft endgültig aufgegeben zu haben“, urteilt das niederländische „Het Financieele Dagblad“.
„Lasst uns ehrlich sein: Wie viele Europäer außerhalb von Deutschland kannten vor 2019 Ursula von der Leyen?“, antwortet Nicolas Schmit selbstbewusst auf diese ersten Schlagzeilen. „Meine Aufgabe ist jetzt, die Frage ‚Nicolas Who?‘ zu beantworten.“
Die Zweifel der internationalen Presse an seinen Fähigkeiten, die europaweite Wahlkampagne der Sozialdemokraten zu leiten, und am Ende einen EU-Topjob zu ergattern, schaffen es an jenem Donnerstag nicht, seine gute Laune zu verderben. Aus gutem Grund. „Ich bin jetzt sozusagen der Sprecher der europäischen Sozialdemokratie“, sagt er kurz bevor öffentlich werden soll, dass er der Auserwählte sein wird. „Ich hätte noch vor Kurzem nicht gedacht, dass das möglich wäre.“
Notlösung
Tatsächlich ist die Spitzenkandidatur von Nicolas Schmit eine Art Notlösung. Die eigentlichen Shootingstars der europäischen Sozialdemokratie, die noch vor wenigen Monaten als ideale Spitzenkandidaten gehandelt wurden, fielen einer nach dem anderen weg. Wie durch ein Wunder gelang es Pedro Sánchez in Spanien eine
Mehrheit für eine Neuauflage seiner Regierung zu finden, der portugiesische Premier Antonio Costa steht wegen Korruptionsskandalen in seinem Umfeld derzeit nicht zur Verfügung und die ehemalige finnische Regierungschefin Sanna Marin hat sich überraschend aus der aktiven Politik zurückgezogen. „In der Politik ist es wie im Leben: Manchmal braucht es auch etwas Glück“, sagt Nicolas Schmit grinsend.
Denn eigentlich hatte er schon fast mit der Politik abgeschlossen. Als nach den Wahlen vom 8. Oktober 2023 klarwird, dass die LSAP in die Opposition muss, und der nächste luxemburgische EU-Kommissarposten an die CSV oder DP gehen wird, muss er sich mit dem Ende seiner politischen Karriere abfinden. Mit seinen 70 Jahren ist das auch ohne allzu viel Frust möglich. Doch hinter den Kulissen zirkuliert schon sein Name als möglicher Ersatzmann für die EU-Spitzenkandidatur. Schmit behauptet indes, dass er sich nie aufdrängen wollte – er sei nun einmal gefragt worden, um auszuhelfen. Und die Herausforderung nimmt er offenbar mit sehr viel Freude an.
Nichts zu verlieren
Ich bin jetzt sozusagen der Sprecher der europäischen Sozialdemokratie. Nicolas Schmit
Schmit hat nämlich absolut nichts zu verlieren. Und dass er unterschätzt wird, ist er ohnehin gewohnt, wie seine bisherige Karriere zeigt: „Nicolas Schmit hat mittlerweile eine Tugend daraus gemacht, undankbare Jobs anzunehmen, die sonst kei
ner wirklich wollte, um daraus neue Gelegenheiten für sich und seine Agenda zu eröffnen“, sagt ein ehemaliger Mitarbeiter.
Ohne es wirklich zu wollen, wird er auch 2004 auf die politische Bühne katapultiert. Der damalige Premier Jean-Claude Juncker (CSV) macht ihn zum beigeordneten Minister für auswärtige Angelegenheiten und Immigration – hauptsächlich, damit er seinem LSAP-Parteikollegen Jean Asselborn aufpassend beisteht, dem Juncker den Job als Außenminister wegen mangelnder internationaler Erfahrung nicht wirklich zutraut.
Schmit hatte bis dahin den Großteil seiner Karriere als hochrangiger Beamter und Diplomat verbracht. Angefangen hat er unter dem DP-Premier Gaston Thorn. Dann arbeitet er für seinen CSV-Nachfolger Pierre Werner, bis er zu Jacques Poos (LSAP) Anfang der 1980er-Jahre ins Außenministerium wechselt. Noch heute wird Schmit sentimental, wenn er über den 2022 verstorbenen Poos redet. Poos wird auch versuchen, Schmit in die aktive Politik zu locken – allerdings mit begrenztem Erfolg. Seinen Weg wird Nicolas Schmit nach einem kurzen Intermezzo als LSAP-Fraktionssekretär weiter in der Diplomatie gehen, wo er allmählich zum absoluten Experten der Europäischen Union aufsteigt. Anfang der 90er-Jahre sitzt er am Verhandlungstisch für den Vertrag von Maastricht und ein paar Jahre später leitet er die ständige Vertretung des Großherzogtums bei der EU.
Schmit ist rückblickend selber über diese lange Hinterzimmer-Karriere jenseits aller Parteigrenzen überrascht: „Ich war eigentlich immer sehr nah an der Politik“. Bereits mit 17 Jahren tritt der Sohn eines Arbeiters der LSAP bei, weil er nicht an eine Revolution glaubt, sondern an den sozialen Fortschritt innerhalb des bestehenden politischen Systems. Als Inspirationsquelle nennt er dabei den damaligen deutschen Bundeskanzler Willy Brandt. Während seiner Studienzeit in Südfrankreich wird er sogar Mitglied des französischen PS. Er verfolgt die politischen Debatten der zwei großen Nachbarländer seit jeher und liest alles, was ihm diesbezüglich in die Hände fällt. Seinen für luxemburgische Verhältnisse ausgeprägten ideologischen Sockel stellt er auch gerne in den Vordergrund. Doch das Image des distanzierten und teils arroganten Diplomaten wird ihn sein Leben lang begleiten.
Wahrscheinlich ist das auch der Grund, warum er in Luxemburg stets unterschätzt wird. Im unheimlich kopflastigen luxemburgischen Wahlsystem haben Leute wie Xavier Bettel, Jean Asselborn oder Mars Di Bartolomeo immer einen Vorteil gegenüber Schmit, der sich im Streit der Ideen wohler fühlt als auf der Kirmes. Er sei nicht der Typ, „der jeden Zweiten umarmt, als kenne er ihn schon ewig“, sagt er. Ein Publikumsliebling wird er nie werden.
Er kann die Massen begeistern
Dabei hat er durchaus die Gabe, Massen zu begeistern, sagt ein Weggefährte. Bei Auftritten im Ausland werde er nach seinen Reden – besonders im Gewerkschaftsmilieu – oft gefeiert. Das müssen sogar Parteifreunde manchmal überrascht feststellen. Denn Schmit hat nur selten die Gelegenheit, diese Talente in Luxemburg unter Beweis zu stellen. Wenn es aber dazu kommt, sind sich alle einig. Seine Brandrede gegen die Sparpläne seines damaligen Regierungskollegen Luc Frieden (CSV) 2010 in Moutfort haben noch viele Sozialisten in Erinnerung.
Schmit schafft es jedoch nie wirklich, politisches Kapital aus seinen Erfolgen zu schlagen. Hängen bleibt vor allem die Affäre rund um seinen vermeintlichen Amtsmissbrauch, als er seinen Sohn 2010 auf das Polizeiamt begleitet, nachdem dieser Ärger bei einer Polizeikontrolle bekommen hatte. Dabei kann Schmit getrost auf eine solide innenpolitische Bilanz zurückblicken. Als Arbeitsminister stößt er mutige Reformen an, darunter die der notorisch verkrusteten ADEM.
Ähnlich übersehen wird auch seine Bilanz als faktischer Minister für europäische Angelegenheiten. Die relativ erfolgreichen EU-Ratspräsidentschaften Luxemburgs von 2005 und 2015 beruhen zum Teil auf Schmits Fleiß. 2015 springt er spontan ein, um den zeitlich überforderten Jean Asselborn bei seinen Auftritten im EU-Parlament zu ersetzen. Dort kommt seine Begeisterung für europäische Angelegenheiten gut an, und er nutzt die Gelegenheit, um sein Netzwerk auf der europäischen Bühne auszubauen.
Der Elan, mit dem er den relativ undankbaren Job des Présidence-Aushelfers ausführt, kann als persönliche Kompensation für den gescheiterten Versuch gedeutet werden, 2014 nach Brüssel zu wechseln. Schmit, dem bei den Koalitionsverhandlungen zu Gambia I der Job des luxemburgischen EU-Kommissars versprochen wurde, muss mit ansehen, wie Premier Xavier Bettel nach den EU-Wahlen von 2014 nichts anderes übrig bleibt, als Jean-Claude Junckers Kandidatur für den Chefposten in der EU-Kommission zu unterstützen – nachdem dieser Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei war. Einen Luxemburger Kommissionschef aus parteipolitischen Gründen zu opfern, wäre nicht denkbar gewesen. Danach folgen für Schmit weitere gescheiterte Versuche, einen europäischen Job zu ergattern.
2018 schafft er dann endlich den lang ersehnten Sprung. Doch dieser verlangt
Schmit eine letzte Machtdemonstration in Luxemburg ab. Denn Etienne Schneider hat während der Koalitionsverhandlungen von 2018 den Kommissarposten für die LSAP gesichert. Allerdings nicht ohne eigennützigen Hintergedanken: Schneider ist selbst daran interessiert, nach Brüssel zu wechseln. Schmit sieht, wie ihm seine letzte Chance auf einen europäischen Posten entgleitet. Herausfordernd schlägt er seinem Parteikollegen vor, die Parteibasis darüber entscheiden zu lassen. Aus Angst vor der sicheren Niederlage bleibt Schneider, der den Sozialisten schon immer suspekt gewesen ist, nichts anderes übrig, als Schmit den Vorrang zu lassen.
Endlich in Brüssel angekommen
Er bewirbt sich dann aktiv, um das oft als irrelevant belächelte Ressort für Soziales, das er auch bekommt. In Brüssel pflegt er stets gute Beziehungen zu seiner Chefin Ursula von der Leyen. Die Arbeitsteilung ist klar: Schmit hält ihr die europäischen Arbeitnehmerverbände vom Leibe, und sie stellt sicher, dass die neoliberalen Kräfte innerhalb der Kommission Schmits Initiativen nicht sabotieren. Auch hier lässt sich die Bilanz zeigen: Während der Covid-Krise macht die EU-Kommission Geld locker, um Kurzarbeit zu ermöglichen, und dadurch Arbeitsplätze zu retten. Unter Schmit verabschiedet die EU eine Richtlinie für faire Mindestlöhne und ist dabei, die Rechte der
In der Politik ist es wie im Leben: Manchmal braucht es auch etwas Glück. Nicolas Schmit, Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokraten
Plattformarbeiter zu stärken. „Professionell war er noch nie so glücklich“, sagt ein enger Mitarbeiter. Schmit hat offensichtlich Spaß am internationalen Umfeld sowie an den unendlichen Verhandlungen mit Mitgliedstaaten und EU-Parlament.
Nun wird Nicolas Schmit gegen seine Chefin im EU-Wahlkampf antreten. Aller Voraussicht nach wird von der Leyen ihre Wiederwahl anstreben. Damit stünde Schmit chancenlos da, um Kommissionschef zu werden. Doch darum geht es ohnehin nicht wirklich: Die meisten europäischen Sozialdemokraten wissen, der mehrsprachige und erfahrene Schmit wird eine solide Kampagne für sie schmeißen. Gleichzeitig müssen sie keine Topfigur opfern, um die Wahlen – technisch gesehen – gegen von der Leyen zu verlieren.
Als Spitzenkandidat wird Schmit dennoch Anrecht auf einen wichtigen Posten in von der Leyens nächster Kommission haben. Und die sozialdemokratische Fraktion im EU-Parlament wird auch darauf pochen, bevor sie von der Leyen ihre Stimmen für ein zweites Mandat schenkt. Luxemburgs Premier Luc Frieden wird demnach vor vollendeten Tatsachen stehen – und ähnlich wie Bettel 2014 keine andere Wahl haben, als einen Politiker aus einer Oppositionspartei für den Brüsseler Posten zu ernennen. Die europäische Karriere, auf die Schmit so lange warten musste, hört also nicht abrupt auf.
Doch für Nicolas Schmit geht es auch um etwas anderes: „Es ist eine persönliche Ehre“, das Vertrauen aller europäischen Sozialdemokraten zu haben, sagt er. Gerührt fügt er hinzu: „Es ist schade, dass Jacques Poos dies nicht miterleben kann.“