Ein russischer Oppositioneller weckt plötzlich Hoffnungen
Boris Nadeschdin hat das nötige Stimmenquorum für seine Kandidatur fast erreicht. Dafür hat er es jetzt mit der russischen Wahlbürokratie zu tun
Es ist wärmer geworden in Moskau, Michail, der den sechs Grad Frost mit einer grauschwarzen Meckifrisur trotzt, sagt, er stehe jetzt 25 Minuten in der Warteschlange. „Warum?“, er lacht. „Um meine Unterschrift für einen unabhängigen Kandidaten abzugeben.“Aber die kleine, blasse Anna neben ihm unterbricht ihn. „Lassen Sie es mich sagen. Ich bin hier, weil meine Mutter in der Ukraine beerdigt liegt, in Ternopil. Sie ist gestorben, und ich kann nicht an ihr Grab.“Boris Nadeschdin sei der einzige Kandidat, der sage, er sei für Frieden mit der Ukraine, bestätigt ihr junger Hintermann unter seiner weiß gepunkteten Bommelmütze.
Vor der blassgrauen Jugendstilfassade der Hausnummer 10 an der Moskauer Furman-Gasse warten etwa 90 Menschen auf dem mit schmutzigem Schnee verklebten Bürgersteig. Moskauer, die ihre Unterschrift für den liberalen Oppositionspolitiker Boris Nadeschdin abgeben wollen. Solche Warteschlangen haben sich in den vergangenen Tagen in Dutzenden russischer, aber auch ausländischer Großstädte gebildet. Nadeschdin, 60, ein Mann aus der dritten Reihe der russischen Politik, ist der einzige Gegenkandidat Wladimir Putins vor den Präsidentschaftswahlen Mitte März, der die Kampfhandlungen in der Ukraine einstellen will.
Aber als Kandidat der außerparlamentarischen Partei „Bürgerinitiative“benötigt er für die Teilnahme mindestens 100.000 Wählerunterschriften. Nadeschdin besaß nicht einmal die Zeit, in allen Regionalhauptstädten Stäbe zu organisieren, am 14. Januar hatte er gerade 9.000 Unterschriften zusammen. Aber in den vergangenen Tagen wurden seine Büros regelrecht von Anhängern gestürmt. Von Jakutsk, wo die Menschen bei 49 Grad Frost Schlange standen, bis zur russischen Exilmetropole Belgrad, wo wie in Moskau und Sankt Petersburg wegen des Andrangs Zweitbüros eröffnet werden mussten.
Kurzer Moment der Freiheit
Der gemütliche Nadeschdin, den viele weiter als Handpuppe des Kremls betrachten, ist plötzlich hipp. Exiloppositionelle rufen reihenweise dazu auf, für ihn zu unterschreiben. Selbst sein Gegenkandidat Wladislaw Dawankow, Duma-Abgeordneter der kremltreuen „Neuen Leute“, gab ihm seine Unterschrift. Weil er ja für politische Konkurrenz in Russland sei.
Russland tut zumindest so, als wäre es wieder eine Demokratie. Zumindest für ein paar Tage und zumindest vor Nadeschdins Stäben öffnen sich der Opposition längst vergessene Freizonen. Dort können sich Putin-Gegner versammeln und ihre Ansichten äußern, ohne dafür ein Strafverfahren zu riskieren. Und Zehntausende nutzen diese Möglichkeit, live gefeiert von den Exilmedien. Obwohl sich fast alle vor deren Kameras das Wort „Krieg“verkneifen.
Aber jetzt ist kein Videoblogger in Sicht, jetzt sprechen die Leute von der Ukraine, vom Frieden. „Alle wollen, dass das aufhört, worüber niemand reden darf“, sagt die kleine Anja. Nadeschdin selbst bestätigt auf Telegram, der Boom habe wohl wenig mit ihm selbst zu tun. „Es gibt einfach eine gewaltige Nachfrage nach Frieden und Veränderung.“
Die Schlange ist länger geworden, jetzt warten schon etwa 120 Menschen in der Furman-Gasse. Eine friedliche Szene, auch in den Hofeingängen und den geparkten Pkw sind keine unauffällig dunkelblaugrau gekleidete Athleten zu sehen.
Bisher habe sich auch kein einziger Randalierer in die Schlange gedrängt, sagt drin
Der gemütliche Nadeschdin, den viele weiter als Handpuppe des Kremls betrachten, ist plötzlich hipp.
nen Maria Neweljewa, die Leiterin des Moskauer Stabes. Und alle Unterschreiber müssten ihren Pass und ihre polizeiliche Anmeldung vorlegen. „Leute, die mit gefälschten Pässen ungültige Unterschriften fabrizieren wollen, sind noch nicht aufgetaucht.“
Stimmenzahl wird gekappt
Nadeschdin selbst schreibt schon am Vormittag auf Telegram, man habe die ersten 100.000 Unterschriften zusammen. Aber damit sei die Hürde keineswegs genommen. Laut Nadeschdin sind nur 63 Prozent der Unterschriftsformulare „ideal“ausgefüllt. Die Zentrale Wahlkommission aber erklärt traditionell einen großen Teil der Signaturen für Putin-Opponenten wegen echter oder vermeintlicher Formfehler für ungültig. Deshalb, so Nadeschdin gestern, müsse man 150.000 Unterschriften holen.
Abgesehen davon verlangen die Wahlregeln 100.000 Unterschriften aus mindestens 40 verschiedenen Regionen, wobei aus keiner mehr als 2.500 angerechnet werden. Von den bis gestern Nachmittag etwa 16.400 Moskauer Unterschriften werden also 13.900 weggedeckelt.
Auch die Unterschriften der Leute, die jetzt draußen stehen. Befürchten sie nicht, dass Nadeschdins Kandidatur wie die vieler Oppositioneller vor ihm an den tückischen Ritualen der Zentralen Wahlkommission scheitert? „Es gibt diese Rituale… “, fängt Michail mit der Meckifrisur an und wird wieder von der kleinen Anna mit der toten Mutter in Ternopil unterbrochen. „Niemand weiß es, aber wenn wir es nicht versuchen, werden wir es nie erfahren.“Die Entscheidung der Zentralen Wahlkommission wird Anfang Februar erwartet.