Warum in Großbritannien schon wieder leere Regale drohen
Die Regierung in London hat diese Woche die umfangreichsten Verschärfungen im Handel mit der EU eingeführt. Die Brexit-Maßnahme könnte folgenreich sein
Stehen die Menschen in Großbritannien wegen des Brexits bald wieder vor leeren Supermarktregalen? Neu wäre das Szenario nicht: Als Sommer 2021 wegen der Covid-Pandemie und wegen des EU-Austritts 100.000 Lkw-Fahrer fehlten, kam es zu schweren Engpässen. Landesweit blieben in vielen Geschäften ganze Reihen von Regalen leer. An viele Tankstellen wurde das Benzin knapp. Es herrschte Krisenstimmung.
Zwar gab es damals auch auf dem europäischen Festland Probleme im Einzelhandel. Die neu geschaffenen Hürden beim grenzüberschreitenden Handel, eine Folge des Brexits, haben die Lage in Großbritannien damals aber zweifellos verschärft. Entsprechend groß war die Häme aus dem Ausland.
Dabei vollzieht sich die weitaus größte Änderung beim Handel mit der EU erst diese Woche – und damit mehr als drei Jahre, nachdem das Land mit dem Ende der Brexit-Übergangsfrist den europäischen Binnenmarkt und die Zollunion verlassen hat. Seit Mittwoch müssen Exporteure in der EU erstmals ihren Gütersendungen nach Großbritannien Gesundheitszeugnisse beilegen.
Kosten für Bürokratie zahlen Verbraucher
Betroffen sind alle Tier- und Pflanzenprodukte „mittleren“oder „hohen“Risikos. Zur Hochrisiko-Kategorie gehören lebende Tiere, Setzlinge, einige Samenarten und Knollen. Zu den Waren mittleren Risikos zählen unter anderem Schnittblumen, Fleisch, Frischmilch, Eier und einige Fischarten. Erst vergangene Woche beschloss das Umwelt- und Landwirtschaftsministerium in London überraschend, zahlreiche Frucht- und Gemüsesorten ebenfalls zur mittleren Risikokategorie hinzuzufügen – zum Entsetzen vieler Importeure. Die verschärften Regeln betreffen somit einen beträchtlichen Teil der Lebensmittelimporte aus der EU.
Exporteure in der EU müssen sich seit dieser Woche von Veterinären oder Inspektoren für Pflanzengesundheit in siebenseitigen Formularen bestätigen lassen, dass von ihrer Ware keine Gefahr ausgeht. Dabei ist für jeden einzelnen Empfänger in Großbritannien ein gesondertes Dokument erforderlich.
Die damit verbundenen Kosten dürften die Erzeuger und Exporteure schon bald auf den Preis ihrer Ware schlagen. Die britische Regierung schätzt, dass die neuen Regeln 330 Millionen Pfund im Jahr kosten werden. Industrievertreter gehen von mehr als einer halben Milliarde Pfund an Mehrkosten aus. Und die dürften wohl bald bei den britischen Verbrauchern landen.
Importeure springen ab
Richtig heikel werden könnte es ab Ende April. Dann sollen auf britischer Seite die Lebensmittellieferungen auch noch an der Grenze inspiziert werden. Das könnte die Lieferketten im Einzelhandel und in der Lebensmittelindustrie vollends durcheinanderwerfen. Denn Großbritannien importiert rund die Hälfte der Lebensmittel, die es verbraucht, aus dem Ausland – und da wiederum den größten Teil aus der EU.
Karin Goodburn, Direktorin des britischen Lebensmittelverbandes Chilled Food Association (CFA), erklärt auf Anfrage: „Das System ist nicht für schnelllebige Just-in-time-Lebensmittel mit kurzer Haltbarkeit ausgelegt und muss neu gestaltet werden, um den Handel zu erleichtern.“Das neue System werde zu „beträchtlichen zusätzlichen Kosten“führen. Es drohten Verzögerungen. Verderbliche Ware könnte an den Grenzen schlecht werden.
John Farrand, Geschäftsführer des Verbandes „Guild of Fine Food“(GFF), der rund 12.000 dieser Geschäfte vertritt, sagte dem Guardian: „Ich mache mir Sorgen, dass wir am Ende nur noch Massenprodukte kaufen und verkaufen werden. Werden wir das Ende kleinerer, interessante
rer Produkte erleben, die letztendlich besser für den Planeten sind?“
Nick Carlucci, Verkaufsdirektor beim italienischen Lebensmittelimporteur Tenuta Marmorelle, sagte, er habe von mehreren Lieferanten in Italien gehört, die sich aufgrund der zusätzlichen Bürokratie gegen den Export nach Großbritannien entschieden hätten. Der Aufwand lohne sich nicht, Großbritannien sei als Markt nicht groß genug. „Das ist schade, denn der Endverbraucher wird diese Spezialprodukte letztendlich verlieren.“
Kommt ein Abkommen mit der EU?
Abhilfe schaffen könnte ein Abkommen zwischen Brüssel und London, bei dem sich beide Seiten darauf verständigen, ihre Lebensmittelsicherheitsvorschriften anzugleichen. Und tatsächlich hat Pedro Serrano, der EU-Botschafter in London, erst kürzlich angedeutet, dass man in Brüssel einem solchen Abkommen gegenüber aufgeschlossen wäre. Besonders wahrscheinlich ist es jedoch nicht, dass sich die Regierung von Premier Rishi Sunak in absehbarer Zeit dazu bereit erklären wird. Spätestens im Januar 2025 soll ein neues Parlament gewählt werden. Sunak und Co. dürfte es vor der Wahl kaum wagen, die Brexit-Unterstützter des Landes mit einer erneuten Annäherung an die EU gegen sich aufzubringen.
Die konservative Abgeordnete und parlamentarische Staatssekretärin im Gesundheitsministerium, Andrea Leadsom, nahm die verschärften Importregeln in Schutz. In einem Radiointerview bezeichnete die erbitterte Brexit-Unterstützerin die neuen Regeln als Preis dafür, „wieder ein souveräner Staat zu sein“. Der Austritt aus dem Binnenmarkt würde immer Konsequenzen haben, sagte Leadsom. „Ich sage nur, dass sich Unternehmen an das sich verändernde Umfeld anpassen müssen.“
: Ich sage nur, dass sich Unternehmen an das sich verändernde Umfeld anpassen müssen. Andrea Leadsom, Parlamentarische Staatssekretärin im Gesundheitsministerium und Brexit-Befürworterin