Ach, Deutschland
Die Zivilgesellschaft hat offenbar besser als die Politik verstanden, worum es in Deutschland im Jahr 2024 geht, meint LW-Korrespondentin Cornelie Barthelme
Die zweite demokratische Republik in Deutschland war 28 Jahre alt, der Zweite Weltkrieg lag 32 zurück, da erschien dort ein Buch mit dem Titel: „Die verbrannten Dichter“. Sein Autor Jürgen Serke — er lebt, fast 86 Jahre alt, heute wie damals in Hamburg — hatte sich auf die Spuren jener Frauen und Männer gemacht, deren Werke die Nazis, sobald sie an der Macht waren, in Flammen aufgehen ließen.
Vor Alfred Döblin, vor Irmgard Keun und Else Lasker-Schüler begann Serke seinen Band mit – Ernst Toller. Schriftsteller, Politiker, Revolutionär. Der hatte im Oktober 1930 in der Wochenschrift „Die Weltbühne“— Forum der Radikaldemokraten, Bürgerlichen, Linken, geleitet von Tucholsky und von Ossietzky — einen ebenso kleinen wie prophetischen Artikel veröffentlicht über den „Reichskanzler Hitler“. Zwei und ein viertel Jahre, ehe Reichspräsident Paul von Hindenburg den Anführer der NSDAP tatsächlich dazu ernannte, warnte Toller vor ihm und seiner Partei: „Sie wird es sich wohl gefallen lassen“, schrieb er, „auf demokratische Weise zur Macht zu gelangen, aber keinesfalls auf Geheiß der Demokratie sie wieder abgeben.“
Im Winter 2024 scheint es, als begriffen plötzlich viele, dass exakt dies auch das Prinzip der AfD sein könnte. Selbst wenn Björn Höcke, der Anführer der Völkischen, der gerichtsfest „Faschist“genannt werden darf, vielleicht kein Hitler wird. In kleinen wie großen Städten, im sogenannten Westen wie im sogenannten Osten der Republik treffen sich Menschen zu Demonstrationen. Gegen die AfD. Und, was viel wichtiger ist und viel entscheidender: für die Demokratie.
Die nämlich steht unter Druck. Vielleicht wie noch nie seit Gründung der Bundesrepublik am 23. Mai 1949. Ein Datum, auf das noch zu kommen sein wird.
Auf den Straßen und Plätzen also recken Menschen Schilder, auf die sie geschrieben haben, ihre Heimat sei bunt und nicht braun. Oder „AfD ist Scheiße. Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“. Der zweite Satz ist ein Zitat; die Rechtsextremisten fügen ihn gern an ihre Rassismen und Fremdenfeindlichkeiten an. Oder die Demonstranten ziehen ihrem Hund ein TShirt über mit der Aufschrift „Dogs for Democracy“. So heiter wie das klingt, geht es oft auch zu zwischen all den Menschen.
Die Folgen von zwei Jahren Ampel-Koalition
Das ist nicht selbstverständlich in Deutschland Anfang 2024. Nach gut zwei Jahren Ampel-Koalition. Nach knapp zwei Jahren Krieg in der Ukraine mit allen seinen Folgen auch 1.000 und mehr Kilometer von den Bomben und vom Sterben entfernt. Mitten in einem Gewirr von Krisen, welt- und europa- und hausgemachten. Bei den Demos gegen die AfD, gegen die Identitären, die Reichsbürger, gegen die Feinde der Demokratie, kehren die Deutschen plötzlich ihr Lieblingsprinzip um. Hier ist die Stimmung oft besser als die Lage.
Im Kanzleramt würden sie das mit der Lage freilich wüst bestreiten. Ach, was heißt: würden. Sie tun es, der Hausherr vorneweg. Falls Olaf Scholz unter Anzug und Hemd keine Panzerschicht trägt, auch nicht um Hirn und Herz, und in den Ohren keine Stöpsel – und nichts deutet darauf hin: Dann muss er wissen, wie wenig die Regierten ihm speziell und der Ampel ganz im Allgemeinen noch zutrauen. Von
Vertrauen zu schweigen. Dann muss er spüren, wie nach der Hälfte seiner ersten – und mit aktuell sehr guten Chancen auch einzigen – Amtszeit alle Hoffnung dahin ist im Land, er und Robert Habeck, der grüne Vizekanzler, und Christian Lindner, der Vizevize von der FDP, könnten es mit dem auf dem Titelblatt des Koalitionsvertrages versprochenen Fortschritt auch nur ein bisschen ernst gemeint haben.
In Wirklichkeit hat Olaf Scholz gerade eben der „Zeit“– und damit der Republik – in einen Interview gesagt, es laufe doch ganz gut. In Scholz-Deutsch: „Uns ist dabei eine ganze Menge gelungen.“
Das ist wahr. Die Ampler haben sich so oft so brutal und so vor aller Augen und Ohren gefetzt wie noch nie eine Regierung. Sie haben damit nicht nur das, was sie an Gesetzen und Projekten fertiggebracht haben – und das ist ja durchaus mehr als manche Kabinette zuvor – überdeckt und also unsichtbar gemacht. Sie haben – vor allem, leider – die Regierten in eine Art grundrebellische Stimmung gereizt, auch solche, die ihnen eigentlich gewogen waren. Und sie haben obendrein die AfD zu einer Stärke gestritten, zu der die Rechtsextremen sich niemals hätten arbeiten können; schon mangels inhaltlicher Substanz nicht.
Kein Wunder, dass Björn Höcke geglaubt hat, er könne für seinen Freund Uwe Thrum das zweite Thüringer Landratsamt sichern, in Schleiz — und für sich den dortigen Landtagswahlkreis gleich noch dazu. Das Wunder ist: Es hat nicht funktioniert. Falls man also die Demonstranten gegen die in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt als erwiesen rechtsextrem geltende AfD in Sachen Wahlen für die Theorie halten will: Dann sind die Ostthüringerinnen und Ostthüringer, die Thrum und Höcke verhindert haben, die Praxis. Gewonnen hat der Christdemokrat Christian Herrgott. Knapp – aber klar. Herrgott ist ein schwer Konservativer. Die Demokraten von links bis rechts aber haben ihre politische Grundausrichtung für weniger wichtig gehalten als den Schutz der Demokratie.
Festtag der Demokratie fällt ins Wasser
Das ist, zum einen, eine klare Botschaft an deren Feinde. Zum anderen allerdings gibt dieses Zusammenhalten zum Verteidigen der freiheitlichen Grundordnung der AfD, der Neuen Rechten und den anderen Umsturz-Fans die Chance, ihre Legende von den „Systemparteien“weiterzuspinnen. Gerade in den jungen Ländern verfängt die Behauptung, in den Berliner Ministerien wie im Bundestag sei längst, wie in der DDR, eine neue Nationale Front am Werk.
Natürlich ist das ein Märchen, sanft formuliert. Die Wirklichkeit in ihr Gegenteil zu verkehren und sich dann gern auch noch zu erregen über diese „alternativen Fakten“– ein Begriff, den eine Beraterin Donald Trumps erfand, um dessen ständige Lügerei zu tarnen: Das ist die AfDStrategie. Sie hat lange schrecklich gut funktioniert.
Aber seit die Pläne und die Komplizen der AfD offenbar sind, sieht es so aus, als sei das vorbei. Wenn Alice Weidel im Bundestag schreit „Diese Regierung hasst Deutschland!“: Dann sehen und hören selbst die Ampel-Frustierten, wo der Hass tatsächlich seine Heimstatt hat. Die Wirkung könnte sich am 26. Mai erweisen. Dann – noch vor der Abstimmung über das EU-Parlament – wählt Thüringen seine Gemeinde- und Stadträte, Bürgermeister und Landräte neu.
Drei Tage vorher wird das demokratische Deutschland 75. Man könnte das feiern, ganz groß, diesen 23. Mai für arbeitsfrei erklären – und zum Festtag der Demokratie. Geplant ist es nicht.
Ach, Deutschland. Bitteren Gruß an Ernst Toller.
Die Ampler haben die AfD zu einer Stärke gestritten, zu der die Rechtsextremen sich niemals hätten arbeiten können; schon mangels inhaltlicher Substanz nicht.