Schwarzer Lavendel
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„Nur mal so eine Frage … Ihr schreibt nicht zufällig heute eine Schulaufgabe?“
„Weißt du überhaupt, wie scheiße schwer Trigonometrische Funktionen sind?“
„Wenn du die Schule satt hast – was ich nur zu gut verstehen kann –, wie ist dann der weitere Plan?“, fragte Leon.
„Irgendwas Richtiges machen“, Lilou kaute.
„Vielleicht bewerbe ich mich bei Nouvelle Star.“
„Coole Idee", sagte Leon.
„Da kannst du reich und berühmt werden. Partys auf weißen Yachten vor Saint-Tropez feiern und solche Dinge."
„Shoppen in New York und Skifahren in St. Moritz", sagte Lilou und seufzte tief. Für einen Augenblick war die Schule ganz weit weg.
„Kannst du eigentlich singen?", fragte Leon.
„Du gönnst einem aber auch gar nichts", klagte Lilou.
„Vielleicht gehe ich ja auch nach Mali. Da bauen sie jede Menge Waisenhäuser für kleine Babys. Hab ich auf Arte gesehen."
„Klar, und die Typen von Boko Haram sind auch dort, entführen weiße Entwicklungshelferinnen und verkaufen sie auf dem Markt.“
„Ich will endlich was Richtiges machen“, sagte Lilou, „verstehst du das denn nicht?“„Was hältst du davon: Du machst dein Baccalauréat. Danach bewirbst du dich bei Nouvelle Star, und anschließend rettest du Babys in Mali.“
„Du bist ja so ein Spießer", stöhnte Lilou, aber es klang nicht wirklich vorwurfsvoll.
„Vielleicht hast du recht“, sagte Leon.
„Soll ich dir noch eins von den Broten für die Schule machen?“Lilou nickte.
Zuletzt packte Leon ihr das Butterbrot, einen Joghurt und eine Banane ein und setzte sie auf dem Weg zur Klinik direkt vor der Schule ab. Nur um sicherzugehen.
77. Kapitel
Die Vorhänge der Suite im Fünfsternehotel Le Club de Cavalière waren noch immer zugezogen. Anna wusste nicht, was sie tun sollte.
Seit ihre Mutter in dem exklusiven Resort am Meer eingecheckt hatte, lag sie auf dem Bett und gab sich ihrer Migräne hin. Dabei hätte Anna so dringend Unterstützung gebraucht. Dutzende von Dingen mussten erledigt werden.
Da waren Formulare bei der Polizei zu unterschreiben, und es gab wichtige Telefonate, die mit der Staatsanwaltschaft in Toulon geführt werden mussten.
Die Bestimmungen zur Überführung von Susans Leiche nach Deutschland bedeuteten einen zermürbenden Kampf mit den Behörden. Und Annas Mutter hatte nichts Besseres zu tun, als auch noch den Nachmittag auf ihrem Zimmer zu verbringen.
Anna hatte von Anfang an geahnt, dass ihre Mutter von der ganzen Situation überfordert sein würde.
So war das in Annas Leben immer gewesen. Wenn es irgendetwas zu entscheiden gab in der Familie, hatte sich ihre Mutter zurückgezogen, und alles war an ihr hängengeblieben.
Aber Anna konnte ihrer Mutter ja nicht verbieten, nach Le Lavandou zu kommen und zu "helfen", ihre Tochter zu beerdigen. Darüber hinaus war die Vorstellung, dass Anna sich hier unten nicht mehr allein mit den Problemen herumschlagen müsste, beruhigend gewesen.
Inzwischen war Claudia Winter seit drei Tagen bei ihrer Tochter in Le Lavandou.
Aber außer für ein Abendessen und einen kurzen Besuch bei Capitaine Isabelle Morell in der Gendarmerie nationale hatte ihre Mutter das Hotel nicht verlassen.
Wenn Anna versuchte, mit ihrer Mutter Details von Susans Überführung zu klären, brach sie in Tränen aus.
Also nahm sich Anna jeden Tag eine kleine Auszeit, bei der sie ganz allein sein konnte mit ihren Gedanken.
„Ich bin mal kurz weg“, sagte Anna zu ihrer Mutter, die auf dem Bett lag, während die Klimaanlage kühle Luft in das abgedunkelte Zimmer blies.
„Ich würde ja gerne mitkommen, Kleines, aber es geht mir wirklich grauenhaft“, sagte die Mutter mit gequälter Stimme und zog dabei die Schlafmaske ein Stück herunter.
„Mir ist es gar nicht recht, wenn du da draußen alleine rumläufst.“
„Und wer soll sich dann um alles kümmern?“, fragte Anna mit angespannter Stimme.
„Bitte ruf an, wenn du meine Hilfe brauchst. Ich werde dann versuchen, trotz der Schmerzen aufzustehen.“
„Ich bin höchstens zwei Stunden spazieren“, sagte Anna, „gegen 18 Uhr muss ich noch einmal zu der netten Polizistin in der Gendarmerie.“
„Bleib nicht so lange, bitte“, sagte die Mutter.
Anna schloss leise die Tür. Sie würde mit dem Auto nach La Favière fahren, wo es einen kleinen Parkplatz gab, der nur ein paar Schritte vom Meer entfernt war. Anna liebte das Meer. Sie liebte es, die Möwen zu beobachten, die ohne einen einzigen Flügelschlag minutenlang über dem Strand im Wind schwebten, als wären sie an unsichtbaren Fäden aufgehängt. Es war beruhigend, einfach nur am Strand entlangzulaufen und für eine Weile alle Probleme und sogar die Trauer zu vergessen.
Die Spaziergänge und der weite Blick über das Wasser hatten ihr auch geholfen, den letzten schweren Gang zu überstehen.
Ihre Mutter hatte sich geweigert, mit in die Gerichtsmedizin zu kommen, um Susan zu identifizieren.
Also war Anna allein in die Klinik gefahren. Der Anblick ihrer toten Zwillingsschwester war ein Schock für sie gewesen.
Es war ihr vorgekommen, als sehe sie sich dort selber liegen. Anna hatte die Tote nur ein paar Sekunden angesehen, aber danach hatte sie zwei Nächte nicht mehr geschlafen.
Sie konnte den Anblick der Schwester nicht mehr vergessen. Wie sie dagelegen hatte – wie eine Puppe in einem Horrorfilm.