Schwarzer Lavendel
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Natürlich rauchte Véronique auch im Lokal ihre Gauloise, was verboten war, woran sich hier aber niemand störte.
Schließlich standen die Glastüren weit offen, und der Übergang zwischen draußen und drinnen war fließend.
„Das muss so Anfang der siebziger Jahre gewesen sein“, erinnerte sich Véronique.
„Jedenfalls gab es damals Fälle von Tierquälerei. Auf einem Reiterhof.“
„Was war mit den Katzen …?“, fragte Leon noch einmal und musste an das denken, was ihm Lavalette vor wenigen Tagen erzählt hatte.
„Jemand hatte sie aufgehängt und aufgeschlitzt. Scheußlich.“„Und das war Alexandre Lavalette?“, vergewisserte sich Leon.
Sie haben damals auf dem Reiterhof ein blutiges Messer gefunden. Ein teures Laguiole. Genau so eins hatte Alexandre zum vierzehnten Geburtstag bekommen.“
„Und niemand hat Anzeige erstattet?“
„Gegen Alexandre? Es gab ja keine Beweise, dass er es war. Und bei seiner Vorgeschichte …“„Welche Vorgeschichte?“
„Klar, kannst du ja nicht wissen“, sagte Véronique und nahm einen tiefen Zug aus ihrer filterlosen Zigarette, den sie mit dem nächsten Satz in kleinen Rauchwolken wieder ausstieß.
„Ist schon so lange her, wirklich grässlich. Alexandres Mutter Denise litt unter diesen Krämpfen, du weißt schon.“
„Epilepsie …?“, fragte Leon. „Genau, Epilepsie. Als Étienne Lavalette sie damals heiratete, war sie schon 32. Das war Anfang der sechziger Jahre ziemlich alt für eine Braut. Sie kam aus einfachen Verhältnissen. Einen Mann wie Étienne Lavalette zu heiraten, das war wie ein Lottogewinn. Ihre Krankheit hat sie verschwiegen. Kaum neun Monate später wurde der kleine Alexandre geboren. Das muss im Sommer 1962 gewesen sein. Danach fing es bei ihr im Kopf an.“
„Was fing bei ihr an?“
„Die Spinnereien. Sie war manchmal nicht ganz klar hier oben.“
Véronique tippte sich bedeutungsvoll an die Stirn.
„Ich hab damals bei den Lavalettes im Haus geputzt. Da bekommst du ’ne Menge mit. Denise hat Selbstgespräche geführt und ganze Tage allein im dunklen Zimmer gesessen. Angeblich hat sie dabei Stimmen gehört. Lauter verrücktes Zeug eben.“
Leon hörte aufmerksam zu. Es war seit einigen Jahren bekannt, dass Epileptiker häufig auch Schizophrenien entwickelten. Allerdings war der Zusammenhang zwischen den beiden Krankheiten noch nicht genau erforscht. Die Gewitter, welche die epileptischen Anfälle im Gehirn auslösten, schienen gelegentlich auch für schizophrene Schübe zu sorgen. Die Wissenschaft vermutete, dass für beide Erkrankungen eine Mischung aus genetischen Faktoren und Außeneinflüssen verantwortlich war.
„Hat ihr Mann denn nichts unternommen? Es gibt schließlich Ärzte.“
„Étienne? Der war völlig überfordert. Wusste nicht, was er machen sollte. Hat wohl gedacht, das Beste wäre es zu schweigen.“
Sie machte eine Pause und schüttelte den Kopf.
„Das arme Kind.“
„Was ist passiert?“
„Die Lavalettes hatten damals noch ihr kleines Wochenendhaus auf Porquerolles, auf der Insel. Gleich am Strand. Da ist Denise öfter mit dem kleinen Alexandre hin. Wenn sie mal wieder ein paar Tage alleine sein wollte. Hat ja nur gestritten mit ihrem Mann", sie unterbrach sich und sah aufs Meer. Leon wartete.
„Keiner weiß, was damals in ihrem verrückten Kopf passiert ist. Jedenfalls bekam sie mal wieder einen Anfall, und aus war’s. Hat drei Tage gedauert, bis jemand am Haus vorbeikam und sie entdeckt hat."
„Und der Junge?“
„Den Jungen hatte sie gefesselt. Kann man sich so was vorstellen? … Hatte ihrem Kind nur eine Schale Wasser hingestellt, wie einem Hund. Der kleine Alexandre war halb verdurstet, als man ihn gefunden hat. Der Himmel allein weiß, was damals in ihrem Kopf vorging. Der Kleine war doch noch nicht mal drei Jahre alt."
„Hat er mitbekommen, was passiert ist?“, fragte Leon erschrocken.
„Ob er es mitbekommen hat? Natürlich, er lag ja im gleichen Raum. Hat zuschauen müssen, wie seine tote Mutter langsam verwest ist.“
„Mein Gott …“, sagte Leon. „Der Vater hat später noch einmal geheiratet“, erzählte Véronique, „aber da hab ich schon nicht mehr bei den Lavalettes geputzt.“
„Wie ist die Sache mit den Katzen ausgegangen?“
„Der Vater schickte Alexandre ins Internat. Und nach ’ner Weile hat niemand mehr drüber gesprochen. Du weißt doch, wie die Leute sind“, sie trank einen Schluck Kaffee.
„Bekam der Junge denn keine psychologische Hilfe?“
„Sein Sohn bei einem Psychodoktor? Da kennst du den alten Lavalette aber schlecht. Schweigen und vertuschen war das Motto der Familie … War schon ein eigenartiger Junge, der kleine Alexandre. Man wusste nie, was er dachte.“
„Kinder hat Lavalette keine, oder?“
„Alexandre? Den hab ich nie mit einer Frau gesehen. Der lebt nur für seinen Job und seinen Chor.“
79. Kapitel
Nach dem ersten Wochenende im Oktober wurde es ruhig in Le Lavandou, die allerletzten Touristen waren nach Hause gefahren. Anna lief den kilometerlangen Sandstrand bis zum Ende, dorthin, wo die Felsen begannen. Hier machte sie eine Pause, setzte sich in den Sand, der noch warm war von der Herbstsonne.
Ein paar Segelboote kreuzten in der Bucht und nutzten die Abendbrise, die jetzt jeden Tag früher einsetzte und vom Meer ins Land hineinwehte. Anna versuchte, sich auf die Inseln am Horizont zu konzentrieren, aber sie spürte, wie die Erinnerung an ihre Schwester in ihr hochkroch.