Krieg gegen Frieden, Anokratie gegen Demokratie
Die Weltgeschichte steht 2024 an einem bedrohlichen Kipppunkt. Und das nicht nur wegen der US-Wahlen
Das Jahr 2024 bleibt unheilschwanger. In einem „Wort“-Interview erklärte der Hochkommissar für Menschenrechte der Vereinten Nationen, Volker Türk, ein Viertel der Menschheit leide unter Konflikten. Immerhin seien 55 Staaten in Kriege verwickelt, oder intern mit gewalttätigen Auseinandersetzungen konfrontiert.
Kein Wunder, dass die Ausgaben für neue Rüstungsgüter explodierten. Seit acht Jahren steigen die Budgets für Kriegsmaterial. Das Stockholmer Friedensinstitut Sipri errechnete für 2022 globale Ausgaben von über 2.055 Milliarden Dollar. Die 2023 und 2024 noch übertroffen werden. Wofür nicht nur die Kriegshandlungen in der Ukraine und Gaza sorgen.
Dabei sollte das Jahr 2024 zum Jahr der Demokratie werden. Viele wichtige Staaten wählen ihren Präsidenten: die USA, Russland, Indien, Indonesien, Mexiko, Südafrika. Dazu die Wahlen für das Europäische Parlament. Weiter Wahlen in Großbritannien, Österreich und Belgien.
Doch gibt es vermehrt Befürchtungen, dieses Superwahljahr könnte der Einstieg zum Abschied von der liberalen Demokratie werden. Manche Wahlgänge werden autokratische Regime festigen. Russlands Präsident Putin steht schon vor dem Urnengang als Sieger fest. Indiens Ministerpräsident Modi ebenfalls. In der „größten“Demokratie der Welt, mit 879 Millionen potenziellen Wähler, dominiert der ultranationalistische Hinduismus. Modi hetzt geschickt gegen die islamische Minderheit.
Zäsur in den USA?
Die US-Wahl im kommenden November riskiert zu einer Zäsur für den Fortbestand der Demokratie als Gesellschaftsmodell zu werden. Die unaufhaltsame Rückkehr des Donald Trump als Kandidat der Republikaner gegen den tattrigen Amtsinhaber Joe Biden wird im Falle des Sieges von Trump zu chaotischen innenund außenpolitischen Konsequenzen zu führen.
Der hinter dem Sturm auf das Kapitol steckende Putschist Trump hat Rache geschworen. Als er 2016 als vielfach unterschätzter Präsident antrat, umgab er sich anfänglich mit ehrbaren Vertretern der Republikanischen Partei. Dieses Mal stützt er sich auf eine ihm allein ergebene Truppe von Radikalen, welche konkrete Pläne haben, wie sie von „Day One“ an die USA umkrempeln und „Freunde“in die Mangel nehmen werden.
Trump kündigte bereits an, er werde kurzfristig den Ukraine-Krieg beenden. Ein „Deal“mit Putin kann nur auf Kosten der Integrität des ukrainischen Territoriums gehen. Was Putin neue Ideen geben könnte. Für die „Befreiung“russischer Minoritäten in Moldawien, Georgien, den baltischen Staaten, gar Kasachstan.
Die NATO droht „obsolet“zu werden. Der erste Trump nutzte das Bündnis zur Erpressung seiner „Verbündeten“, verstärkt in Waffensysteme „Made in America“zu investieren. Ohnehin die größte Waffenschmiede der Welt.
Der zweite Trump wird noch radikaler vorgehen. Zwar hat der US-Senat vorsichtshalber ein Gesetz erlassen, laut dem ein Austritt aus der NATO nicht allein vom Präsidenten beschlossen werden kann. Ein Präsident Trump II wird jedoch drohen, Militärbasen in Europa zu schließen.
Die Folgen von „America First“
In Luxemburg gibt es bloß ein Materiallager der US-Army. In vielen NATO-Staaten unterhalten die USA waffenstrotzende Militärbasen. In Großbritannien haben die Amerikaner 13 Basen, in Italien deren sieben. In Polen und Rumänien gibt es Raketen-Stützpunkte, angeblich gegen den Iran gerichtet.
Wer weiterhin auf die US-Verteidigung zählen will, wird zahlen müssen. „America First“soll zuerst die Taschen der Trump-Anhänger füllen.
Seit der Biden-Wahl ist Amerika tief gespalten. Trumps Anhänger sind reiche Besitzbürger, fanatische Waffenträger, frustrierte Arbeitnehmer sowie bornierte Evangelisten. Eine gefährliche Mischung, die je nach Wahlausgang zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führen könnte.
Der Oberste Gerichtshof der USA war lange der Garant der liberalen Grundordnung Amerikas. Doch haben Trump und die Republikaner es geschafft, eine stramme Mehrheit von erzkonservativen Richtern zu nominieren, die sich anschickt, die liberale Auslegung der Verfassung auszuhöhlen. Etwa das Recht der Frauen auf Abtreibung. All dies verspricht nichts Gutes für den Fortbestand demokratischer Grundrechte.
Unfaire Wahlen
In vielen Teilen der Welt werden Wahlen zur Pflichtübung. Regierende Autokraten stellen sich zwar den Wählern. Doch potenziell erfolgreiche Gegenkandidaten werden von gleichgeschalteten Gerichten an einer Kandidatur gehindert. So in der Türkei, wo der populäre Bürgermeister von Istanbul wegen angeblicher „Beleidigung“des Präsidenten nicht gegen Erdogan antreten durfte. Nach dem gleichen Schema wurden die „freien“Wahlen in Bangladesch, in Pakistan, in Ägypten, in Senegal und nunmehr in Russland „unfair“eingegrenzt.
In vielen europäischen Demokratien halten sich Regierungen durch Fremdenfeindlichkeit an der Macht. Viktor Orbán in Ungarn. Robert Fico in Slowenien. Georgia Meloni und Salvini in Italien. Ultrarechte Parteien sind Mehrheitsbeschaffer in Skandinavien. Oder siegten wie Wilders in Holland. Österreich riskiert ebenfalls ins ultrarechte Lager abzugleiten. Belgiens gespaltene Wählerschaft ist immer für eine schlechte Überraschung gut.
Bloß in Polen schaffte es Donald Tusk, die Opposition gegen das Kaczynski-Regime zu einigen. Doch Polens Rückkehr zu einem untadeligen Rechtsstaat wird vom PiS-treuen Präsidenten Duda behindert.
Europa ohne strategische Stabilität
Der Ukraine-Krieg beendete Europas wichtigsten geopolitischen Vergleichsvorteil, die „strategische Stabilität“, wie Thomas Gomart („Les ambitions inavouées“) schreibt: „China und die USA teilen die gleiche Religion, jene des materiellen Erfolges. Weshalb sie sich in einem permanenten Wettbewerb befinden zur Beherrschung der Energieströme und der Kontrolle der digitalen Daten auf globaler Ebene“.
Für Josef Braml („Die transatlantische Illusion“), „steuert die Welt auf eine multipolare Ordnung zu, in der die USA ein wichtiger, aber nicht mehr der allein dominierende Pol sind.“Im Wettstreit mit China geht es nicht „um die Durchsetzung der regelbasierten internationalen Ordnung, sondern um die Aufrechterhaltung der eigenen Hegemonie.“
Mit Trump II droht Europas Schutzmacht eine „Anokratie“zu werden. Für Barbara F. Walter, Professorin für Politikwissenschaft, ist das eine „Regierungsform mit unklaren Machtverhältnissen“, ein „Grenzfall zwischen einer Demokratie und einem autokratischen Staat“. Solche „Anokratien“riskiert das Superwahljahr 2024 noch mehr zu produzieren. Die Europäer müssen gegensteuern. Die Wahlen für das Europäische Parlament müssen ein Bekenntnis zu wahrer Demokratie werden. Die Europäische Union muss ihr Schicksal selbst verteidigen: politisch, wirtschaftlich und militärisch.
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