Tränen, die sich einkerben
Kästner ließ mich erschaudern. Kaum eine literarische Szene hat mich als ganz junger Leser stärker geprägt als diese Passage aus „Das fliegende Klassenzimmer“: „Martins Knie wurden schwach. Sie zitterten. Er blickte auf den Boden und las: ,Mein lieber guter Junge! Das wird wahrhaftig ein trauriger Brief.’“Martins Mutter schildert, dass sie, seine Eltern, ihm das Fahrtgeld für die Heimfahrt aus dem Internat zum gemeinsamen Weihnachtsfest nicht schicken können. Und Kästner schließt an das traurige Schreiben an: „Die Schrift verschwamm vor seinen Augen. Die Mutter hatte geweint. Man sah es. Die Tinte war ein paarmal verwischt.“Doch diese Tränen und noch viel mehr aus diesem Buch hat seine Spuren hinterlassen. Heute weiß ich: Als Autor wagte er es 1933 in der Nachfolge seines Kinderbucherfolgs „Emil und die Detektive“von 1929 einmal mehr Erwachsene in ihrer Schwachheit und Unvollkommenheit zu zeigen. Und zuallererst nahm er Kinder mit all ihren Sorgen ernst und schilderte sie mit all ihrem Mut und Entschlossenheit.
Nur wenige Jahre später wurden seine Bücher auf dem Scheiterhaufen der Nazis verbrannt. Er stand am Berliner Opernplatz dabei. Und er beschrieb seine eigene Sprachlosigkeit und Schwachheit – wie das Magazin „Der Spiegel“später zitierte – so: „Ich hatte angesichts des Scheiterhaufens nicht aufgeschrien. Ich hatte nicht mit der Faust gedroht. Ich hatte sie nur in der Tasche geballt.“Warum er das dann überhaupt erzähle? „Weil keiner unter uns und überhaupt niemand die Mutfrage beantworten kann, bevor die Zumutung an ihn herantritt.“Seine literarische Aufarbeitung der NSZeit hat er nie geschrieben. Und doch ist er in Erinnerung geblieben – gerade als unvollkommener Mensch.