Russland zwischen Gelage und Mangelwirtschaft
Laut Wladimir Putin ist die Kriegsökonomie des Landes seit zwei Jahren auf der Siegerstraße. Aber die Fassade beginnt zu bröckeln
Den Legehennen knickten aus Schwäche einfach die Beine weg, erklärt Wadim. Auch in Russland seien Legehennen heutzutage hochgezüchtete Rassen. „Es reicht nicht, ihnen einfach Korn vorzuwerfen. Die brauchen spezielle Futterzusätze, alles aus dem Ausland“, erklärt Wadim den Mangel an Hühnereiern, der diesen Winter zu leeren Supermarktregalen und zu Preisanstiegen von über 30 Prozent geführt hatte. Dabei betreibt Wadim gar keine Hühnerfarm, er handelt mit Ausrüstung für Gasheizungen. Aber jetzt redet in Russlands Wirtschaft jeder über alles. Privat.
Seit zwei Jahren ist Wladimir Putins Ökonomie ebenso auf der Siegerstraße wie seine Armee in der Ukraine – nach offiziellen Angaben. Allen Sanktionen zum Trotz wuchs das amtlich verkündete Bruttoinlandsprodukt vergangenes Jahr um 3,5 Prozent, die Arbeitslosigkeit sank auf ein historisches Tief von 2,9 Prozent, die Reallöhne stiegen um 7,7 Prozent.
Aber ein Großteil der Wirtschaftsstatistiken sind für geheim erklärt worden. Es gibt immer weniger verlässliche Informationen und immer weniger Experten, die es öffentlich wagen, den offiziellen Versionen zu widersprechen. Etwa der Versicherung Wladimir Putins, die Regierung hätte es einfach versäumt, mehr Hühnereier zu importieren, nachdem der Appetit der Russen auf sie enorm gestiegen sei. „Ich konnte früher auch morgens zehn Eier verdrücken.“
Fokus auf die Rüstung
Bei einem amtlichen Militärhaushalt von 104 Milliarden Euro droht den staatlichen Rüstungsbetrieben dieses Jahr kaum das Schicksal der Hühnerfarmen. Aber angesichts des Arbeitskräftemangels können auch sie nicht wirklich expandieren, Russland muss Drohnen, Raketen, selbst einfache Artilleriegeschosse in Nordkorea oder dem Iran kaufen. Die Privatwirtschaft stöhnt derweil unter den Zentralbank-Leitzinsen von 16 Prozent.
Die tatsächliche wirtschaftliche Entwicklung wird zusehends undurchschaubar. „Die Qualität der Analysen und der öffentlichen Debatte sinkt“, schreibt Forbes Russland, „stattdessen wird auf der Grundlage einzelner Angaben spekuliert.“
Die einzelnen Angaben klingen zunehmend unerfreulich. Gasprom, der größte Rohstoffkonzern und Steuerzahler Russlands, hat vergangenes Jahr beim Gasexport nach verschiedenen Schätzungen fünf bis zehn Milliarden Dollar Verlust eingefahren. Laut Zollbehörden sanken die russischen Exporte gegenüber 2022 insgesamt um 28 Prozent. Wegen maroder Heizrohrsysteme saßen diesen Winter eine Rekordzahl von über 1,5 Millionen Russen in kalten Wohnungen. Die technischen Pannen im russischen Passagierflugverkehr haben sich vor allem mangels Ersatzteilen in den vergangenen zwei Jahren laut Newsweek verdreifacht.
Teure chinesische Alternativen
Unter dem Druck der US-Sanktionen sperrten unlängst drei der vier größten Banken Chinas alle Zahlungen aus Russland, Banken in der Türkei und den Vereinigten Arabischen Emiraten machen inzwischen sogar russische Konten dicht. Russische Importeure weichen schon auf Kryptobörsen aus, um ihre Lieferanten zu bezahlen.
Man kann ahnen, dass das reale Gesamtbild weniger siegreich aussieht als die offiziellen Rapporte. „Im kommenden Jahr wird eine Rezession nicht zu vermeiden sein“, warnt der Wirtschaftswissenschaftler Jewgenij Naroschkin in einem Interview mit dem ultrapatriotischen Portal Zargrad.
Russlands Autokunden schimpfen heftig über die neuen chinesischen Monopolisten. „Ein chinesischer Jeep kostet inzwischen so viel wie ein BMW der gleichen Klasse vor dem Krieg“, schimpft Wadim. Und der Moskauer Beamte Alexej ärgert sich: „Uns verkaufen die Chinesen ihre schlechtesten Autos.“
Steuererhöhungen erwartet
Solche Gerüchte drücken auf die Stimmung. Auch die Gerüchte, die um die Präsidentschaftswahlen Mitte März kreisen. Nach Putins obligatorischem Wahlsieg heißt es, werde der Staat den Zwangsumtausch der Hartwährungseinnahmen von Rohstoffexporten aufheben, mit dessen Hilfe er den Rubel seit Oktober stützt. Schon steht ein Absturz des Wechselkurses von 100 Rubel für einen Euro auf 150 bis 200 Rubel im Raum.
Auch von einer drastischer Erhöhung der Umsatz- und Einkommenssteuer ist die Rede. Dabei besitzen nach einer Umfrage des Lewada-Meinungsforschungszentrums 77 Prozent der Russen keine Ersparnisse mehr, die ihr Monatseinkommen übersteigen. Aber trotz der enormen Zinsen nehmen sie eifrig Verbraucherkredite auf, als hofften sie, diese nie mehr zurückzahlen zu müssen. Naroschkin zitiert schon das Drama des russischen Klassikers Alexander Puschkin: „Gelage in Zeiten der Pest.“
In der Industrie dagegen zieht wieder sowjetische Mangelwirtschaft ein. Wadim, der Gasausrüster, erzählt, kürzlich sei er in eine Rüstungsfabrik gefahren. Nicht um Gastechnik zu verkaufen, sondern mit dem Vorschlag, die Altanlagen dort umsonst zu demontieren. „Dann brauchen die es nicht zu verschrotten, ich aber kriege eine Menge Gebrauchtersatzteile, die ich wieder verkaufen kann.“Eine Episode wie aus der späten UdSSR. Deren Ökonomie galt auch als rohstoffgetriebene Rüstungsschmiede, etwas primitiv, aber robust. Und kaum jemand hätte mit ihrem Zusammenbruch gerechnet.