Der Duft von Zimt
Kurz nach der Hochzeit stieg er dann in rasantem Tempo zu einem der wohlhabenderen Kaufmänner der Stadt auf. Heute besaß er eine große Villa am Jungfernstieg mit Blick auf die Binnenalster. Josephine hatte sich schon häufig gefragt, womit er, der bis zur Besatzung Hamburgs mit Kolonialwaren, vor allem mit Rohrzucker und Kaffee, gehandelt hatte, mittlerweile eigentlich sein Geld verdiente. Der Lebensstil ihrer Schwester kam ihr noch immer prunkvoll und verschwenderisch vor. Und immer wieder stand das Ehepaar großzügig bereit, um Onkel Fritz’ Schulden zu begleichen oder seine allzu knappe Kasse aufzubessern.
Einmal hatte sie ihre Schwester danach gefragt, doch die hatte nur die Schultern hochgezogen.
„Ach, ehrlich gesagt sind Philipps Geldgeschäfte viel zu kompliziert, als dass ich sie verstehen könnte.“Und dann hatte sie das mädchenhafte Kichern aufgesetzt, das sie sich angewöhnt hatte, kurz nachdem sie eine Dame der Gesellschaft geworden war.
Nun seufzte Josephine noch einmal. „Die Franzosen können die Stadt doch nicht für immer halten …“
„Mir bereiten gar nicht die Franzosen die meisten Sorgen“, schaltete sich da Philipp mit seiner etwas nasalen Stimme ein, ohne zu den Frauen hinüberzusehen. „Viel mehr beunruhigt mich der Pöbel.“Mit dem Zeigefinger wies er durch das Fenster nach draußen. „Seht ihr das?“
Josephine beugte sich nach vorn, um an ihrer Schwester vorbei schauen zu können. Gerade passierte die Kutsche eine kleine Gruppe zerrissener Gestalten, die die Köpfe zusammensteckten. Einer von ihnen schien wild auf die anderen einzureden, ein Zweiter nickte mit geballten Fäusten. Ihre Haut war gerötet und von weißen Schuppen übersät, ihre Haare verfilzt und die halb nackten Füße schwarz vom Dreck.
„Zusammenkünfte wie diese sind verboten, oder nicht?“, fragte Ida leise. Wie um sie zu bestätigen, kläffte Marie-Antoinette. Es stimmte, die Franzosen hatten ein Dekret erlassen, wonach sich die Hamburger nicht mehr in größeren Gruppen an öffentlichen Orten aufhalten durften. „Sie haben Angst vor einer Revolte“, hatte Onkel Fritz Josephine erklärt.
Mit einem Ruck öffnete Philipp nun die Tür der fahrenden Kutsche und rief: „Schert euch hier weg, oder soll ich das melden?!“
Die Köpfe der Männer wirbelten herum, und schneller als eine Schar Möwen stoben sie auseinander und verteilten sich in sämtliche Richtungen.
„Dreckiges Gesindel“, schimpfte Philipp, während er die Tür wieder schloss. „Wegen diesem
Pack geht unsere Stadt noch vor die Hunde, das sage ich euch!“
Josephine knetete ihre Hände. Am liebsten hätte sie erwidert, dass die Franzosen ja wohl die größere Gefahr für Hamburg darstellten, aber ihr Schwager schien so gereizt, dass sie sich besser zurückhielt. Dennoch fragte sie sich, warum er so streng mit seinen eigenen Mitbürgern war.
Sie drehte den Kopf und sah nachdenklich zur anderen Seite aus dem Fenster. Nicht mehr lange, und sie wären da. Den Weg bis zum Grasbrook hätte man auch innerhalb von nicht mal einer halben Stunde laufen können, und Josephine hätte es gutgetan, sich ein wenig die Füße zu vertreten, doch natürlich liefen Herrschaften wie die Altmanns nicht durch Hamburg. Sie spazierten höchstens auf dem Jungfernstieg auf und ab, um ihre neueste Garderobe zu präsentieren.
Josephine biss die Zähne zusammen und versuchte, nicht so gehässig über ihre Schwester zu denken. Vor allem heute nicht – Ida schien noch nervöser als sonst.
Stattdessen betrachtete sie im Vorbeifahren die Häuser: Zu ihrer Rechten tauchten die Kirchturmspitzen des Doms sowie St. Petris über den Dächern auf, bald fuhren sie über rumpelige, schmale Brücken, die über die Fleete führten, durch enge Gassen und an kleinen Plätzen vorbei. Schon früher hatte es arme Menschen in Hamburg gegeben, die in Behelfshütten zwischen den Häuserreihen hausten. Doch in den letzten Jahren schien es Josephine, als hätten sie sich verdoppelt oder gar verdreifacht. Wo sie auch hinschaute, sah sie bettelnde Kinder, Männer in Lumpen und Frauen mit verfilzten Haaren und aufgesprungenen Lippen. Dazwischen patrouillierten Soldaten mit ihren Zweispitzen oder hoch aufragenden Helmen sowie den breiten Rabatten auf der Brust. Diejenigen unter ihnen, die auf Pferden saßen, waren mit einer solchen Menge von Behängen, bunten Schärpen und hohen Federn ausgestattet, dass es schon lachhaft wirkte. Die Fußsoldaten sahen etwas bescheidener aus, doch auch sie waren auffällig angezogen mit ihren kniehohen Gamaschen und halblangen Westenröcken in Weiß, Blau, Grün oder Gelb. Sie kamen Josephine vor wie bunte Vogelmännchen, die mit ihrer Federpracht prahlten. Und tatsächlich führte der ein oder andere auch ein Hamburger Fräulein am Arm spazieren.
In der Ferne konnte Josephine die Spitze des Michels erkennen, dann bogen sie in Richtung des Brocktors ab, hinter dem die Masten der Segler schon die Nähe des Hafens ankündigten – als die Pferde jäh stehen blieben.
„Haben uns die Grünröcke gerade angehalten?“, fragte Ida schrill.
Philipp schnaubte.
„Die Zöllner haben uns doch noch nie angehalten!“
„Hee, Kutscher, fahren Sie gefälligst weiter!“, rief Philipp, jetzt gar nicht mehr nasal, und schlug gegen die Kutschenwand.
Doch da wurde schon die Tür aufgerissen, und ein Douanier streckte seinen Zweispitz herein. Sofort setzte das wütende Gekläffe von Marie-Antoinette wieder ein. Philipp beugte sich zu dem Mann vor, funkelte ihn warnend an und sagte auf Französisch: „Mein Name ist Philipp Altmann, und ich muss Sie bitten, uns schleunigst durchzulassen.“
„Nun, Monsieur Altmann“, nuschelte der Zollbeamte, „leider haben wir Anweisung, heute jede, wirklich jede, Kutsche zu durchsuchen. Erheben Sie sich bitte.“
(Fortsetzung folgt)