Gaza und die neue, alte Weltordnung
Dass mit Israel ein zentraler Verbündeter des Westens im 21. Jahrhundert des Völkermords angeklagt ist, muss uns zu denken geben
Am 26. Januar 2024 hat der Internationale Gerichtshof Israel dazu aufgerufen, alles zu unternehmen, um einen Völkermord zu verhindern, und sicherzustellen, dass humanitäre Hilfe die Bevölkerung erreicht. Die Richter halten den Vorwurf des Völkermords für plausibel. Dass ein zentraler Verbündeter des Westens im 21. Jahrhundert des Völkermords angeklagt ist, muss uns zu denken geben.
Die geforderten Maßnahmen des Internationalen Gerichtshofes sind sofort umzusetzen und sie sind Teil der Rechtsordnung. Israel muss sich der Rechtsprechung beugen sowie alle anderen Mitgliedstaaten. Alle unterliegen der Verpflichtung, den Völkermord an den Palästinensern im Gazastreifen zu verhindern.
In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach der Reaktion der internationalen Gemeinschaft. Zahlreiche Staatshäupter haben zwar Israel aufgefordert, das Urteil zu respektieren, aber nur wenige sehen sich selbst in der Verantwortung, Israel dazu zu bringen, einen Völkermord zu verhindern. Die israelische Regierung wird ihren mörderischen Angriff auf die Menschen im Gazastreifen ohne den Druck der Weltgemeinschaft nicht beenden.
„Keine Hilfe, kein Geld, keine Waffen, kein Handel“
Israels Verbündete, allen voran die USA, Großbritannien und die EU, müssen aufhören, die Politik der israelischen Regierung zu unterstützen. Der Druck muss materiell zu spüren sein. Das bedeutet, mit den Worten Philippe Sands, Anwalt und Professor für internationales Recht, letzte Woche vor dem Internationalen Gerichtshof, „keine Hilfe, kein Geld, keine Waffen, kein Handel“.
Die EU ist Israels erster Handelspartner. Im Sinne unserer internationalen Rechtsverpflichtungen müssten die Handelsbeziehungen suspendiert werden. Die spanischen und irischen Premierminister haben vor ein paar Tagen die Europäische Kommission dazu aufgefordert, das Handelsabkommen mit Israel zu überprüfen, da Artikel 2 dieses Abkommens den Respekt der Menschenrechte voraussetzt.
Niemand wird im Nachhinein sagen können, er habe nichts davon mitbekommen, was im Gazastreifen vor sich geht, denn der mögliche Völkermord wird live übertragen. Rund 30.000 Menschen sind bis heute getötet worden, davon 70 Prozent Kinder und Frauen. Es ist wortwörtlich ein Völkermord an Kindern. Laut Unicef ist Gaza ein Friedhof für Kinder.
Erinnerung an Nakba
Hinzu kommt, dass laut Unicef, 17.000 Kinder Waisen geworden sind oder von ihrer Familie getrennt wurden. Ein unfassbares Leid, dem man ein Ende setzen könnte, wenn Israels Verbündete, sprich allen voran unsere westlichen Regierungen, ihrer Verantwortung in Bezug auf das internationale Recht nachkommen würden.
Experten nach ist Israels Angriff auf den Gazastreifen beispiellos. Die Intensität und die Schnelligkeit der Zerstörung sind
unfassbar: laut Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums 30.000 Tote in vier Monaten, etwa 70.000 Verletzte und eine Zerstörung von rund 70 Prozent aller Wohnungen, ganz oder zum Teil. 1,5 Millionen Menschen mussten bereits flüchten. Schulen, Kirchen, Moscheen, Krankenhäuser, Universitäten, die Bombardements scheinen vor nichts Halt zu machen. Israels Armee zielt auf das Leben in Gaza ab.
Es war Menschenrechtlern, UN-Fachkräften und Medienschaffenden relativ früh klar, dass das Ziel der israelischen Armee hier nicht vordergründig die Hamas war, sondern die Bevölkerung und das Leben in Gaza selbst. Schnell wurde ersichtlich, dass die israelische Regierung eine ethnische Säuberung in Gaza plante. Immer wieder wurde die Bevölkerung dazu aufgerufen, nach Süden zu flüchten, in sogenannte sichere Zonen. Diese entpuppten sich allerdings zusehends als erhebliches Risiko für die Geflüchteten, da sie ebenso bombardiert wurden. Nun soll die Bevölkerung nach Ägypten emigrieren, in die Wüste Sinai, so der Wunsch der israelischen Autoritäten.
Indessen erleben die Palästinenser eine erneute Nakba, ähnlich der Katastrophe
von 1948. Damals als Israel gegründet wurde, wurden 800.000 Menschen aus ihren Dörfern im heutigen Israel vertrieben. Zwei Drittel der Einwohner des Gazastreifens sind Flüchtlinge der Nakba von 1948. Nun werden sie erneut vertrieben.
Eine der Waffen, deren Israel sich bedient, um die palästinensische Bevölkerung aus dem Gazastreifen zu vertreiben, ist der Hunger. Da die israelische Armee den Landstreifen belagert und umzingelt, können die Menschen den Bomben und dem Hunger nicht entkommen. Die Lebensmittelknappheit und die damit einhergehende Hungersnot verbreiten sich, da wegen der unsicheren Lage und der Blockade Israels wenig Hilfsgüter und Nahrungsmittel zu den Menschen gelangen. Im Norden des Landstreifens sind heute rund 400.000 Hungernde eingesperrt. Berichten zufolge, kochen sie Suppen aus Gras und essen die Reste von Tierfutter, die ihnen noch bleiben.
Ein Aufschrei der Entrüstung seitens der Hilfsorganisationen, dass 500.000 Menschen im Gazastreifen an Hunger und den Folgen sanitärer Krankheiten sterben werden, wenn das militärische Vorgehen Israels nicht gestoppt wird, erfolgt mit zunehmender Vehemenz. Viele Kinder seien heute schon krank, da die sanitäre und medizinische Lage apokalyptisch sei. Lebensmittel und sauberes Wasser sind auch im Süden, wo die Geflüchteten aufeinander gepfercht leben, sehr selten. 90 Prozent der Kinder leiden an infektiösen Krankheiten.
Unsägliche Komplizenschaft
In dem Kontext ist es eine Schande, dass verschiedene Länder, wie Deutschland und Österreich, ihre finanzielle Beteiligung an dem Palästinenserflüchtlingshilfswerk UNRWA eingestellt haben.
Nicht nur beteiligen sie sich aktiv an einem Völkermord, indem sie die so dringend benötigte Hilfe behindern, sondern verletzen auch ihre oben genannten internationalen rechtlichen Verpflichtungen.
Diese unsägliche Komplizenschaft an einem Völkermord muss uns zu denken geben. Wenn wir heute tatenlos einem Völkermord zusehen können, ohne dass wir unsere Mittäterschaft, durch Handelsverbindungen und andere Beziehungen, überdenken, hat unser moralischer Kompass ausgedient.
Auch müssen wir uns um die derzeitige Weltordnung sorgen, da diese verstärkt derjenigen von vor 100 Jahren ähnelt. Wenn Staaten ihre Ziele mit Waffengewalt durchsetzen können, dann kehren wir mit großen Schritten zu einer Weltordnung zurück, die nicht mehr auf Gesetzen und Normen basiert, sondern auf Macht. Ganz neu ist das nicht, ganz alt auch nicht. Aber Sorgen sollen wir uns machen. Und endlich handeln.
Wenn Staaten ihre Ziele mit Waffengewalt durchsetzen können, dann kehren wir mit großen Schritten zu einer Weltordnung zurück, die nicht mehr auf Gesetzen und Normen basiert, sondern auf Macht.