Frankreichs letzter Gigant
Der verstorbene Ex-Justizminister Robert Badinter hinterlässt eine große Lücke. Der 95-Jährige war eine moralische Instanz
Den wichtigsten Satz seines Lebens sprach Robert Badinter am 17. September 1981 nachmittags um halb vier in der nur spärlich besetzten Nationalversammlung. „Ich habe die Ehre, im Namen der Republik von der Nationalversammlung die Abschaffung der Todesstrafe in Frankreich zu fordern“, begann der Justizminister sein leidenschaftliches Plädoyer gegen die Guillotine. Als Anwalt hatte er den Kampf gegen die Todesstrafe erbittert geführt, seit er seinen Klienten Roger Bontems nicht vor der Hinrichtung retten konnte. Im Hof des Pariser Gefängnisses Santé war er 1972 dabei gewesen, als Bontems enthauptet wurde. Das trockene Geräusch des Fallbeils auf dem Bock werde er nie vergessen, gestand er hinterher.
Es war das Festhalten an seinen Überzeugungen, das Badinter in ganz Frankreich Respekt verschaffte. Bis zu seinem Tod am 9. Februar äußerte sich der hochgewachsene Mann mit der tiefen, eindringlichen Stimme, wenn es um die Unabhängigkeit der Justiz und die Menschenrechte ging. Jahrzehntelang war Badinter eine Art moralischer Kompass Frankreichs. „Der letzte Gigant“überschrieb die Zeitung „Le Parisien“ihren Nachruf.
Die Lebensgeschichte des Sohnes einer jüdischen Familie, die aus Osteuropa nach Frankreich eingewandert war, liest sich wie ein Roman. Robert wuchs mit seinem Bruder in Paris auf. Nach der Nazi-Besatzung Frankreichs floh die Familie nach Lyon, wo der Vater am 9. Februar 1943 festgenommen und später im Vernichtungslager Sobibor ermordet wurde. Auch Robert Badinters Großmutter, ein Onkel und mehrere Cousins wurden deportiert. „Wissen Sie, auf der Erinnerungsmauer der Shoah-Gedenkstätte stehen viele aus meiner Familie“, sagte er in einem Interview mit der Zeitung „Le Monde“.
Mit seiner Mutter und seinem Bruder versteckte er sich nach der Festnahme des Vaters in einem kleinen Ort in den französischen Alpen, dessen Bewohner die Familie schützten. „Dieses Dorf, in dieser schrecklichen Zeit, das war für mich Frankreich.“Unter falscher Identität besuchte der brillante Schüler weiter das Gymnasium und studierte danach Jura und Literatur. Mit einem Stipendium ging er an die Columbia-Universität in den USA, wo er die Bedeutung der Justiz im Kampf gegen jeden Machtmissbrauch entdeckte. Eine Erfahrung, die ihn für sein ganzes Leben prägte.
Nach seiner Rückkehr nach Frankreich begann Badinter in einer Anwaltskanzlei und machte sich schnell als Vertreter von Stars wie Charlie Chaplin, Raquel Welch oder Coco Chanel einen Namen. Ein Schwarz-WeißFoto aus jener Zeit zeigt den dunkelhaarigen Anwalt, der selbst wie ein Filmstar aussah, an der Seite von Brigitte Bardot. Auch seine erste Frau, Anne Vernon, war eine Schauspielerin. Doch die Ehe hielt nicht lange: 1966 heiratete er die 16 Jahre jüngere Élisabeth Bleustein-Blanchet, eine Philosophin und Feministin, mit der er drei Kinder hatte.
„Verteidigen heißt, die Verteidigung zu lieben“
Obwohl er mit renommierten Klienten viel Geld verdiente, ging es Badinter vor allem um eine Justiz, in der die Todesstrafe keinen Platz hatte. Das Thema war damals heikel: 1976 explodierte in seinem Haus eine Bombe. Selbst in seiner eigenen Kanzlei hatte er Schwierigkeiten, sein Engagement für zum Tode verurteilte Mörder zu begründen. „Verteidigen heißt, die Verteidigung zu lieben und nicht denjenigen, den man verteidigt“, sagte er einmal. Auf Bontems, den unschuldig Verurteilten, den er nicht retten konnte, folgte 1977 Patrick Henry. Durch eines seiner legendären Plädoyers, die er aus dem Stegreif vortrug, schaffte er es, den Kindermörder vor dem Fallbeil zu bewahren. Insgesamt rettete er sechs Verurteilte vor der Todesstrafe. „Das werden meine Zeugen sein, wenn ich vor dem Herrn erscheine“, scherzte er. „Ich bin ein bescheidener Sünder, wie wir alle, aber ich habe Zeugen, die mich entlasten – auch wenn fast alle Mörder sind.“
Vier Jahre nach dem Urteil gegen Patrick Henry wurde in Frankreich die Todesstrafe abgeschafft. Badinter, nach dem Wahlsieg des Sozialisten François Mitterrand zum Justizminister ernannt, beendete dieses finstere Kapitel französischer Geschichte – obwohl eine Mehrheit der Bevölkerung für die Exekution von Schwerverbrechern war. Das Ende der Todesstrafe war nicht die einzige Errungenschaft, die Badinter als Justizminister durchsetzte. Er entkriminalisierte die Homosexualität, schaffte den Staatssicherheitsgerichtshof ab, der politische Verbrechen verfolgte, und setzte bessere Haftbedingungen für Gefangene durch. Außerdem realisierte er seinen alten Traum der Individualbeschwerde, als er 1981 jeder Bürgerin und jedem Bürger ermöglichte, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anzurufen.
Trotz seiner Erfolge war Badinter als Minister einer der meist gehassten Männer des Landes. Die Polizisten warfen ihm vor, zu lasch gegenüber den Verbrechern zu sein. „Badinter, Mörder“, riefen Tausende vor dem Justizministerium an der schicken Pariser Place Vendôme nachdem zwei ihrer Kollegen von Einbrechern erschossen worden waren. Dennoch blieb Badinter länger im Amt als fast alle anderen Justizminister Frankreichs.
1986 verließ er die Regierung, um Präsident des Verfassungsrates zu werden, den er bis 1995 leitete. Auf Initiative von Mitterrand wurde er danach als sozialistischer Kandidat in den Senat gewählt, wo er bis 2006 als Gewissen der Republik saß. „Er verkörperte mehr denn je, im Senat und darüber hinaus, eine universelle, unberührbare Vision der Menschenrechte“, charakterisierte „Le Monde“seine Rolle in jener Zeit. Nach seinem Ausscheiden aus dem Senat schrieb der überzeugte Europäer viel: Bücher, eine Oper und 2018 die Geschichte seiner Großmutter Idiss, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Analphabetin nach Frankreich ausgewandert war. Es wurde sein persönlichstes Buch und gleichzeitig eine Hommage an das Land, das seine Familie aufgenommen hatte. Robert Badinter gab Frankreich dafür viel zurück.
Trotz seiner Erfolge war Badinter als Minister einer der meist gehassten Männer des Landes.