Wo verzweifelte Kinder ein offenes Ohr finden
Das Kanner-Jugendtelefon sucht Verstärkung. Eine langjährige Mitarbeiterin erzählt von ihren Erfahrungen
„Papa schlägt mich“, sagt Mathilda schüchtern am Telefon. Die Zehnjährige weiß nicht weiter. Soll ich weglaufen, kann ich mich verteidigen, was mache ich falsch, bin ich schuld? Viele Fragen und Gedanken kreisen in Mathildas Kopf, Angst und Verunsicherung sind ihre ständigen Begleiter. In ihren Träumen erlebt Mathilda immer wieder die Gewalt ihres Vaters, sie schläft immer schlechter.
Mathilda gibt es nicht, der Fall ist erfunden. Und doch gibt es sie: Kinder, die genau das erleben. Missbrauch im eigenen Elternhaus, Mobbing in der Schule oder Vernachlässigung – Gewalt hat viele Formen. „Mir lauschteren dir no, an alles bleift ënnert eis.“Nach diesem Grundsatz bietet das Kanner-Jugendtelefon (KJT) seit über 30 Jahren telefonische Beratung für Kinder und Jugendliche an. Seit 2003 gibt es zusätzlich das Angebot der Onlineberatung, 2021 wurde die Chatberatung gestartet.
Angst, Einsamkeit, depressive Verstimmungen, Konflikte innerhalb der Familie oder im Freundeskreis: Kinder und Jugendliche rufen die Nummer 116 111 an, „wenn sie in akuten Notlagen sind, wenn sie einfach einen Gesprächspartner suchen oder eine konkrete Information brauchen“, heißt es in einem aktuellen Presseschreiben des KJT, denn: Zur Verstärkung seines Teams sucht das KJT wieder neue ehrenamtliche Mitarbeiter. Gesucht werden „Menschen, die Freude am Kontakt mit Kindern und Jugendlichen haben und an psychologischen und pädagogischen Themen interessiert sind“. Die zukünftigen Berater müssen psychisch belastbar, flexibel im Denken und aufgeschlossen im Kontakt sein.
Jedes Thema wird ernst genommen
Christiane wäre froh gewesen, wenn es in ihrer Jugend etwas wie das KJT gegeben hätte. Die heute 68-Jährige aus dem Ösling hatte als Kind Probleme mit ihrer Mutter. „Ich habe mich nicht verstanden gefühlt und wurde in der Schule gemobbt. Wobei das damals ja noch nicht Mobbing genannt wurde“, erzählt Christiane dem LW am Telefon. Damals war sie Grundschülerin. „Ich konnte mit niemandem sprechen, mir wurde immer nur gesagt, nimm’s nicht so ernst.“
Vor 20 Jahren las Christiane in der Zeitung einen Aufruf des Kanner-Jugendtelefons und meldete sich sofort als ehrenamtliche Mitarbeiterin. Sie wollte die Hilfe geben, die ihr selbst als Jugendliche verwehrt blieb.
„Es geht darum, gemeinsam zu einer Lösung zu finden und nicht einfach ein Pflaster draufzulegen“, erklärt Christiane. Egal, mit welchem Anliegen ein Kind anrufe, jedes werde ernst genommen, „jedes Thema ist willkommen und wir tun alles, damit sich der Anrufer gut fühlt, sich gut aufgehoben fühlt“.
An ihren ersten Anruf, den sie Ende der 90er-Jahre entgegengenommen hat, kann sich Christiane noch gut erinnern. „Ein Kind rief an und erzählte, dass es eine gute Prüfung geschrieben habe. Mehr nicht. Das fand ich wirklich süß. Ich habe es dann gelobt.“Und der schlimmste Anruf? „Das war dieses Mädchen, 17 Jahre, es wollte sich ritzen, weil
Das 17-jährige Mädchen wollte sich ritzen, weil es den Druck nicht mehr aushielt. Christiane, Langjährige Mitarbeiterin am Kanner-Jugendtelefon
es den Druck nicht mehr aushielt“, erinnert sich Christiane. „Wir haben ganz lange geredet, ich habe ihr zugehört und sie auf andere Ideen gebracht, ein gutes Gespräch allein kann schon ganz viel bewirken. Ich habe ihr dann geraten, einen Psychologen aufzusuchen.“
Christiane, „total hilfsbereit“, musste anfangs erst lernen, „dass ich nicht alles kontrollieren oder für jemanden entscheiden kann, weil die Betroffenen selbst handeln müssen. Ich bin nicht gerne inaktiv, aber ich habe gelernt, dass ich nicht alles in der Hand habe“.
Im Laufe der Jahre habe das Thema Gewalt, nicht nur zu Hause, sondern auch unter Kindern und Schülern, bei den Anrufern zugenommen. Ebenso psychische Probleme. Wie geht man mit schwierigen Themen um, nimmt man sie nach der Arbeit nicht mit nach Hause? „Ich kann nicht sagen, dass mich bestimmte Probleme nicht beschäftigt hätten“, antwortet Christiane. „Geholfen haben mir die monatlichen Supervisionen mit der Psychologin.“
Zehn Jahre lang fanden Kinder und Jugendliche bei Christiane ein offenes Ohr. Mittlerweile ist sie Botschafterin des Kanner-Jugendtelefons und geht in Schulklassen, um das KJT bekannter zu machen. „Kinder brauchen einen Rettungsring, an dem sie sich festhalten können, wenn sie verzweifelt sind und glauben, unterzugehen.“
Um die Anonymität der ehemaligen Beraterin zu wahren, hat die Redaktion sich dazu entschieden, nur den Vornamen zu nennen und kein Bild zu zeigen.