Wie Künstliche Intelligenz die Arbeit von Anwälten auf den Kopf stellt
Allen & Overy, eine der größten Kanzleien Luxemburgs, hat ein Computersystem entwickelt, das die Rechtsberatung radikal verändern könnte
Eine der ersten Tätigkeiten, die Künstliche Intelligenz gehörig verändern wird, dürfte der Beruf des Anwalts sein. Ein wichtiger Teil der Arbeit der meisten Juristen besteht darin, Klauseln nach standardisierten Formeln zu formulieren, Paragrafen aus Gesetzestexten auf tatsächliche Fälle anzuwenden und dazu passende frühere Gerichtsurteile und Präzedenzfälle zu finden. Viele dieser Aufgaben lassen sich mit cleveren Computerprogrammen automatisieren.
Darauf setzt auch die internationale Großkanzlei Allen & Overy, die in Luxemburg 240 Mitarbeiter beschäftigt. Das Unternehmen hat früh erkannt, wie wichtig Technologie im juristischen Bereich werden kann und unterhält in London eine eigene Abteilung, die sich mit „LegalTech“beschäftigt. So gehörte Allen & Overy zu den ersten Kanzleien, die im vergangenen Jahr mit „Harvey“experimentierten, einer Version von „Chat GTP“, die auf die Bedürfnisse von Juristen zugeschnitten ist.
Aber Harvey hatte Schwächen, die dafür sorgten, dass die Anwälte das Programm nur begrenzt in der täglichen Arbeit einsetzen konnten, erklärt Patrick Mischo, der Luxemburg-Chef von Allen & Overy. „Man konnte Fragen an Harvey richten und ihn auffordern, eine Präsentation zu erstellen oder sogar eine Klausel für einen Vertrag zu formulieren“, sagt er. „Aber es gab verschiedene Risiken beim Umgang mit dem Programm.“
„Halluzinierende“Programme
Ein wesentlicher Punkt war das sogenannte „halluzinieren“. Harvey gab mitunter überzeugend klingende Antworten auf juristische Fragen, die sich dann aber als frei erfunden und falsch herausstellten. Daneben waren die Quellen, aus denen sich die Software speiste, nur bis zu dem Tag aktuell, bis zu dem die Programmierung abgeschlossen war. Auf die neuesten Urteile konnte Harvey also nicht zurückgreifen. „Als Anwalt musste man also sehr vorsichtig damit umgehen und alles sehr genau prüfen. Der wichtigste Teil unseres Jobs ist, dass die rechtliche Beratung, die wir geben, korrekt ist. Da kann man sich keine Fehler erlauben“, so Mischo.
Darum hat das Unternehmen jetzt ein neues Programm in Zusammenarbeit mit dem Softwareriesen Microsoft und den Machern von Harvey entwickelt, das diese Probleme beheben soll. Die Lösung mit dem Namen „ContractMatrix“soll nicht nur intern verwendet, sondern auch den Rechtsabteilungen von Kunden zur Verfügung gestellt werden. Während Harvey auf Quellen zugreift, die öffentlich verfügbar sind, lassen sich mit dem neuen Programm geschlossene Kreisläufe etablieren, in denen nur gesicherte Informationen genutzt werden.
Bei dem Vorgängerprogramm war es in der Regel aus Gründen der Vertraulichkeit und des Datenschutzes nicht möglich, Informationen von Kunden hochzuladen und von der Software verarbeiten zu lassen, erklärt Miao Wang, als Partner bei Allen & Overy für den Fondsbereich zuständig. „Wir sind an berufliche Geheimhaltungspflichten gebunden. Bei Harvey konnten wir nicht zu 100 Prozent garantieren, dass die Informationen nicht nach außen gelangen, daher konnten wir Kundendaten nicht einspeisen, wenn wir Verträge umschreiben wollten“, sagt Mischo. Ein Hindernis, wenn man eine Beratung anbieten will, die auf den einzelnen Kunden zugeschnitten ist.
Es erfordert schon Expertenwissen, um beurteilen zu können, ob die von der KI vorgeschlagenen Änderungen sinnvoll sind. Miao Wang, Partner, Allen & Overy
Durchkämmen von Verträgen wird von der KI übernommen
Mit ContractMatrix könne man nun einzelne Dossiers hochladen und gleichzeitig garantieren, dass ausschließlich die Mitarbeiter Zugriff auf die Informationen haben, die im Auftrag des jeweiligen Klienten handeln.
„Wenn ich zum Beispiel für einen Kunden bereits zehn Projekte betreut habe, kann ich bei Vertragsverhandlungen immer vergleichen, welche Klauseln und welche rechtlichen Kompromisse in der Vergangenheit akzeptiert wurden“, erklärt Wang. Bisher sei das in der Regel von Junior-Anwälten erledigt worden, indem sie manuell einzelne Dokumente durchforste
ten und überprüften. „Wenn die Fälle in dem Programm hochgeladen wurden, sucht der Algorithmus nun automatisch nach vergleichbaren Fällen, Klauseln und Bedingungen, mit denen der Klient einverstanden war. Statt sich 20 Dossiers anzuschauen, kann man sich auf die fünf relevantesten konzentrieren. Das beschleunigt den Vorgang enorm.“
Daneben können die Anwälte dem Programm offene Fragen stellen. „Ich kann zum Beispiel fragen, ob ein bestimmter Paragraf günstig für Investoren ist und das Programm erstellt mir eine Analyse zu der Frage“, sagt Wang. „Dann kann ich der Software sagen, dass sie die Klausel investorenfreundlicher gestalten oder mehr Verbindlichkeiten einfordern soll und sie fer
tigt einen entsprechenden Entwurf an. Sie fügt sogar Fußnoten ein, die erklären, warum sie eine bestimmte Änderung vorgenommen hat.“
Produktivitätsgewinn von bis zu 30 Prozent
Bei dem Vergleich von Klauseln könne man ausschließen, dass das System „halluziniert“, da es nur auf genau definierte Quellen und bestehende Verträge zurückgreift; bei den Analysen und Textentwürfen, müsse der Anwalt aber genau prüfen. „Manchmal gibt das System eine falsche Antwort oder eine, die in dem Zusammenhang nicht so relevant ist. Es erfordert dann schon Expertenwissen, um beurteilen zu können, ob die vorgeschlagenen Änderungen sinnvoll sind. Aber in meiner Erfahrung ist das Programm recht präzise“, sagt Wang. „Auf jeden Fall gibt es erste Anhaltspunkte, in welche Richtung man gehen sollte.“
Kunden können sich einen Zugang zu der Lösung in einem „Software-as-a-Service“-Modell kaufen und sie ihren Rechtsabteilungen zur Verfügung stellen. Man könne sie problemlos an die rechtliche Situation in einzelnen Branchen und Ländern anpassen, sagt Mischo. Die Software würde in allen Bereichen Zeit sparen, in denen man es mit rechtlichen Dokumenten zu tun hat, die sich inhaltlich wiederholen oder starke Ähnlichkeiten aufweisen, erklärt Wang. „Beispiele sind Banken oder Asset Manager aus der Fondsindustrie“, sagt sie.
Laut dem Unternehmen kann die Software die Produktivität der Anwälte um bis zu 30 Prozent erhöhen. Das hänge natürlich von den einzelnen Tätigkeitsfeldern und Aufgaben ab, schränkt Mischo ein. Den
Job der Anwälte mache die Software dennoch nicht überflüssig. Er mache ihn nur schneller und nehme ihm repetitive und nicht-wertschöpfende Arbeiten ab, betonen beide Juristen.
KI kann beim Fachkräftemangel helfen
Gerade in der Europäischen Union nehme die Dichte an Regulierungen und Dokumentationspflichten beständig zu, der Bedarf an juristischer Beratung steige folglich, sagt Mischo. Speziell für Luxemburg habe sich zudem die Rolle vieler Kanzleien in Luxemburg in den letzten 20 Jahren geändert. „Früher waren bei größeren Deals die Anwälte in London oder New York federführend, während die hiesigen Juristen eher dafür Sorge zu tragen hatten, dass die lokalen Gesetze eingehalten werden. Inzwischen sind zunehmend auch Luxemburger Firmen in der Führungsrolle. Die Entwicklung hat sich insbesondere durch den Brexit nochmal verstärkt“, erklärt er. „Gleichzeitig ist es enorm schwierig geworden, in Luxemburg das Personal zu finden, das man braucht, um diese Aufgaben zu übernehmen.“
Umso wichtiger sei es, dass sich die Anwälte mithilfe von Software-Lösungen auf solche großen Projekte konzentrieren und die juristische Kleinarbeit an die Maschine abtreten können. „Die Arbeit in Kanzleien wird sich verändern. Man wird nicht mehr für die gleichen repetitiven Aufgaben hohe Stundensätze verlangen können, sondern nur noch für rechtliche Beratung, die genau auf die Anforderungen der Kunden zugeschnitten ist. Anwälte sollten wirkliche Anwaltsarbeit verrichten können“, sagt Wang.