Russen in Luxemburg blicken auf die Scheinwahlen in der Heimat
Russische Putin-Gegner im Großherzogtum rufen zum Protest gegen den Urnengang auf. Sie wollen Alexej Nawalnys letztes Projekt unterstützen und ihn mit einer Straße ehren
Sie sind verschwunden, die vielen Blumen und Kerzen, die Passanten Mitte Februar vor dem Bauzaun am Hotel des Postes am Hamilius niedergelegt hatten. Doch die kleine Gedenkwand ist geblieben; leicht verwittert sind die Botschaften auch einen Monat später noch gut zu lesen. „Zwei Jahre Krieg in der Ukraine, die Ermordung von Alexej Nawalny, das werden wir nicht verzeihen! Russland wird frei sein!“, steht mit weißer Schrift auf einem schwarzen Plakat. „Unterstützt die Ukraine“, heißt es daneben, oder: „Russland ohne Putin“. Über allem das eingeschweißte Foto Nawalnys.
Kein anderer Ort bietet sich in diesen Tagen so gut für ein Treffen mit russischen Kriegsgegnern an. In fließendem Luxemburgisch begrüßt Sergey Terentyev die Wort-Fotografin und den Reporter. „Moien“, ruft Terentyev schließlich seinen Mitstreiter Ilya Ostretsov zu; „ech versichen, Lëtzebuergesch ze schwätzen“, antwortet dieser. Dann kommt auch Artem Tuprikov dazu, der bislang nur Englisch und Russisch versteht. „Moien“, grüßt Terentyev ihn dennoch mit einem freundlichen Lächeln. Dann schaut er ihn spitzbübisch an und schickt ihn mit einem zackigen „dawai“zur Fotografin: Los, vorwärts, die Portraitfotos warten. Die beiden müssen lachen.
Währenddessen kommt eine Mitdreißigerin mit ihren beiden Töchtern an der Gedenkwand für Nawalny vorbei und halten inne. Sie sei auch Russin, gibt die Mutter zu verstehen. Verlegen ergänzt sie: „Ich kann kein Foto machen, ich fliege im Sommer nach Russland, will meine Großmutter sehen, verstehen Sie?“Ein Bild von Nawalny zu posten, das gebe Schwierigkeiten bei der Einreise nach Russland.
Keine Illusionen über einen Heimatbesuch
Sergey Terentyev, der seit 2006 in Luxemburg lebt, hat ebenfalls Familie in Russland. Doch der 42-Jährige hat sich längst von der Illusion verabschiedet, die alte Heimat in absehbarer Zeit zu besuchen. Zusammen mit Gleichgesinnten, darunter Ilya Ostretsov, entschied er sich nach dem Großangriff seines Heimatlandes auf die Ukraine dazu, Farbe zu bekennen. So entstand „RUhelp“, eine Initiative von Russen, die Solidarität mit dem bedrängten Land zeigen wollten. Und die mit der Botschaft „Russians against the war“ein deutliches Zeichen in Richtung Kreml setzten, der das Wort Krieg unter
Strafe gestellt hat und von einer Kriegsspezialoperation spricht.
An jenem berüchtigten 24. Februar 2022 lebte Ilya Ostretsov schon seit sechs Jahren in Luxemburg. Der 39-Jährige, der für ein japanisches Unternehmen tätig ist, zögerte nicht lange, sondern entschied sich, den Opfern dieses Krieges zu helfen. „Es war kein Gefühl der Schuld, aber der Verantwortung“, erinnert er sich an jene furchtbaren, sprachlosen Tage. RUhelp organisierte fünf Privatautos, mit denen sie an die polnischukrainische Grenze fuhren und 19 Flüchtlinge aus dem Osten der Ukraine aufnahmen. Über Monate hinweg sammelten die Helfer Spenden.
Es gibt Ukrainer, die nach dem russischen Überfall auf ihr Land kein Wort Russisch mehr gesprochen haben. Terentyev hat dafür Verständnis. Doch er hat auch andere Erfahrungen gemacht. Viele Geflüchtete seien dankbar für die Unterstützung. „Russisch ist für viele Ukrainer die Muttersprache, sie sprechen das auch weiterhin gern“, sagt er. Und betont: „Man darf Russisch sprechen, ohne Putin zu unterstützen.“Man müsse zwischen der Kultur und den Verbrechen der Staatsführung unterscheiden: „Dostojewski hat nicht Kiew bombardiert, so wie Wagner nicht für den Holocaust verantwortlich war.“
Hilfe für Ukrainer und Russen
Inzwischen kümmert sich RUhelp auch viel um Russen, die nach Luxemburg kommen. „Wir organisieren Events wie russischsprachige Kreise, Spieleabende, Theater oder Soirées“, so Terentyev. Seit dem Krieg verlassen viele junge, kremlkritische Leute, etwa Studenten oder Expats, das Land. Auch Artem Tuprikov und seine Frau, beide Software-Entwickler, entschlossen sich 2022, ihre Heimat im westsibirischen Tjumen zu verlassen.
Es habe ihn im Februar 2022 geschockt, wie viele gebildete Leute geschwiegen hätten oder voll auf Kurs des Regimes gewesen seien. „Ich wollte dieses Regime nicht mehr mit meinen Steuern unterstützen“, sagt Tuprikow. Schnell fanden die beiden Experten neue Jobs in Luxemburg, einem Land, das ganz oben auf seiner Wunschliste gestanden habe. Hier angekommen, sei es ein großartiges Gefühl gewesen, wieder auf die Straße gehen und an Demos teilnehmen zu können. „Ich hatte das vermisst“, sagt Tuprikow. Immer mehr solcher Freiheiten hat der Diktator im Kreml abgeräumt. 2017 habe er sich noch für Nawalny einsetzen können, der damals eine vergebliche Präsidentschaftskandidatur gegen Putin vorantrieb. Tuprikow sucht kurz in seiner Fotogalerie, dann zeigt er ein Foto aus diesem Jahr, das ihn an der Seite Nawalnys zeigt.
Selbstbewusst hält er es in die Höhe und lässt sich damit fotografieren. Das bringt Ilya Ostretsov zum Lachen: „Also du wirst definitiv nicht so bald zurückgehen“, kommentiert er. „Glaube eher nicht“, antwortet Tu
Er hat das wahre Gesicht des Regimes aufgedeckt. Artem Tuprikov über Nawalny
prikow und lacht. Etwas später wird er nachdenklich; seine größte Sorge sei, dass ein enger Verwandter sterbe und er nicht zur Beerdigung fliegen könne.
Beerdigung – bei dem Stichwort kommt das Gespräch sofort auf Alexej Nawalny. Die Nachricht von seinem Tod in einem Straflager sorgte am 16. Februar weltweit für Schlagzeilen. Auch in der luxemburgischen russischen Community waren viele Menschen betroffen. „Er hat das wahre Gesicht des Regimes aufgedeckt“, findet Tuprikow. Sergey Terentyev ist überzeugt: „Er war ein Symbol des Kampfes gegen die Diktatur.“
Eine umstrittene Heldenfigur
Gewiss: Nawalny war keine unumstrittene Heldenfigur. Terentyev erinnert daran, dass der Verstorbene seine politische Laufbahn vor zwei Jahrzehnten als russischer Nationalist begonnen habe. Viele Ukrainer seien ihm gegenüber skeptisch eingestellt, weil er die russische Invasion der ukrainischen Krim 2014 nicht verurteilte. Doch er habe sich seitdem weiterentwickelt.
„Was Nawalny vor zehn Jahren über die Krim gesagt hat, definiert ihn nicht als Politiker“, findet Terentyev. Für ihn ist wichtiger, dass der Oppositionelle seine Position nach der großangelegten Invasion Russlands verändert habe. „Nach dem Krieg hat er klar und deutlich gesagt: Russland soll in seinen offiziellen Grenzen bleiben.“Unmittelbar nach Nawalnys Tod rief RUhelp zu einer Kundgebung auf, zu der deutlich mehr Menschen kamen als erwartet. „Für die russische Gemeinschaft in Luxemburg war das eines der größten Events überhaupt“, freut sich Terentyev. Seine Organisation hat einen Vorstoß unternommen, zwei Straßen in der Nähe der russischen Botschaft nach Nawalny und dem 2015 ermordeten russischen Oppositionellen Boris Nemzow umzubenennen. Dazu habe es auch erste Gespräche mit der Stadt gegeben, die Resonanz sei jedoch verhalten, berichtet Terentyev.
In der russischen Botschaft in Luxemburg kann man seine Stimme für dei Wahl des Präsidenten abgeben, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Wladimir Putin heißen wird. Terentyev nennt es eine „Quasi-Wahlprozedur ohne freien Kandidaten“. Die letzte Hoffnung vieler Demokraten, der 60-jährige Menschenrechtler Boris Nadeschdin, der nach eigenen Angaben mehr als 200.000 Unterschriften für seine Kandidatur gesammelt hatte, darf nicht antreten, obwohl er „alles Unmögliche gemacht hat, aber die Leute an der Macht haben Angst“, so sieht es Sergey Terentyev.
Eine ungewisse Zukunft
Er selbst will von seinem Wahlrecht Gebrauch machen. Obwohl er weiß, dass manche Landsleute sich Sorgen machen, die Botschaft zu betreten: „Wenn du über die Grenze gehst, gelten luxemburgische Gesetze nicht mehr.“Er sei sich sicher, dass in der Botschaft eine Liste mit Namen vermeintlich antirussischer Aktivisten vorliege.
Ilya Ostretsovs Name dürfte dort vermerkt sein. Gegenüber der Presse redet er nicht um den heißen Brei herum. Er wolle die Luxemburger aufrütteln, denn Putin werde nicht an den Grenzen der Ukraine haltmachen, ist er überzeugt. Und er fordert: „Die Ukraine muss in ihren Grenzen von 1991 wiederhergestellt werden.“
Was viele Aktivisten mürbe macht, ist die Unsicherheit über die Zukunft. Die Ungewissheit, ob man Angehörige treffen kann, was derzeit nur mit Umwegen, etwa in der Türkei, möglich ist. Doch nicht alle Älteren können mehr reisen. Auch ausgewanderte Russen in Luxemburg könnten mittelfristig Aufenthalts- oder Grenzprobleme bekommen. „Was passiert, wenn der russische Pass abläuft?“, fragt sich Terentyev. Es reiche schon aus, einen kremlkritischen Beitrag auf Facebook zu liken, schon könne einem die Botschaft einen neuen Pass verweigern.
Doch was macht man dann? Wie werden die luxemburgischen Behörden auf so eine Situation reagieren?
Viele Fragen sind offen. Gewiss scheint für Menschen wie Sergey Terentyev derzeit nur zu sein, dass sie in absehbarer Zeit keinen russischen Boden betreten werden. Der 42-Jährige erzählt von einem früheren Kollegen, einem Iraner, der auf den Sturz des dortigen Regimes hofft. Seit 1968 habe er seine Heimat nicht mehr besucht. „Man sagt: Ein Winter kann nicht ewig dauern. Aber er ist schon sehr traurig...“
Kundgebung gegen Putin
Am Sonntag ruft RUhelp unter dem Motto „Mittag gegen Putin“zu einer Kundgebung gegen die Scheinwahlen in Russland auf. Sie findet um 12 Uhr vor dem russischen Konsulat in der rue Cyprien Merjai statt.
Gleichlautende Proteste finden vielerorts statt, sie gehen auf Pläne Nawalnys zurück. Sergey Terentyev hofft darauf, dass auch viele Luxemburger kommen werden: „Es ist Nawalnys letzter Wille.“