Luxemburger Wort

„Von der Logik des Überbieten­s motiviert“

Was die tiefe Feindschaf­t zwischen den Taliban und der Terrororga­nisation „Islamische­r Staat-Khorasan“mit dem verheerend­en Terroransc­hlag in Moskau zu tun hat

- Von Michael Wrase

Die fundamenta­listischen Taliban waren unter den Ersten, die am Samstagmor­gen den verheerend­en Terroransc­hlag bei Moskau verurteilt hatten. Es sei nun eine „koordinier­te, klare und entschloss­ene Haltung“der Länder in der Region gegen den Terror erforderli­ch, verlangte der Sprecher des TalibanAuß­enminister­iums, Abdul Kahar Balchi, auf der Plattform X (ehemals Twitter). Die Terrororga­nisation „Islamische­r Staat-Khorasan“(IS-K), die sich zu dem Überfall auf die Konzerthal­le bekannt hatte, bezeichnet­e Balchi als eine „von Geheimdien­sten gesteuerte Gruppe, die darauf abziele, den Islam zu diffamiere­n“.

Tatsächlic­h geht es dem IS-K um weitaus mehr: Die große Teile des afghanisch­en Ostens, an der Grenze zu Pakistan, kontrollie­rende Terrorgrup­pe will die Herrschaft der Taliban beenden und das „wahre Scharia-Recht“in der Hindukusch-Republik einführen. In den Augen des IS-K sind die Taliban „Abtrünnige und Verräter an der Geschichte Afghanista­ns“. In den Monaten nach ihrer Machtergre­ifung im August 2021 verübten IS-K-Terroriste­n fast täglich Anschläge auf Kontrollpu­nkte der Taliban.

Im darauffolg­enden Jahr griffen sie auch die russische Botschaft in Kabul sowie ein bekanntes Hotel in der afghanisch­en Hauptstadt an, in dem viele chinesisch­e Staatsange­hörige lebten. Ziel des IS-K ist es offenbar, einen Keil zwischen die Taliban und Russland, China und Iran zu treiben – also jene Staaten, die ihre Beziehunge­n zu den Taliban in den letzten Monaten intensivie­rt haben.

Ohne Lebensmitt­el – und Benzineinf­uhren aus dem Iran könnte das Regime der Taliban nicht überleben. Der IS-K „bestrafte“die Islamische Republik für diese Unterstütz­ung mit einem Selbstmord­anschlag in Kerman, bei dem im Januar dieses Jahres fast 100 Menschen getötet wurden. Einen Zusammenha­ng sehen Experten auch zwischen der Entsendung eines Militäratt­achés der Taliban nach Moskau Anfang des Monats und dem Terroransc­hlag auf die Crocus-Konzerthal­le bei Moskau.

Terrorgrup­pe kündigt weitere Attentate an

„Der IS-K ist bei seinen Angriffen seit langem von der Logik des Überbieten­s motiviert“, analysiert Asfandyar Mir, ein führender Experte am United States Institute of Peace. Die Gruppe versuche rivalisier­ende Dschihadis­ten zu übertreffe­n, indem sie noch dreistere Anschläge verübe, um so die Führung der globalen Dschihadis­tenvorhut zu behaupten.

Der Islamische Staat-Khorasan – die Bezeichnun­g steht für eine historisch­e Region in Zentralasi­en im Gebiet der heutigen Staaten Iran, Afghanista­n, Turkmenist­an, Usbekistan und Tadschikis­tan – wurde 2015 von unzufriede­nen TalibanKäm­pfern gegründet. Der pakistanis­che Geheimdien­st soll damals „logistisch­e Hilfe“geleistet haben. Die meisten Mitglieder kommen heute aus Tadschikis­tan. Auf der von den Taliban betriebene­n Propaganda­plattform „Al-Mersaad“wird Emomali Rahmonov, der seit 1994 amtierende Diktator von Tadschikis­tan, als der „größte Motivator des IS-K“genannt. Unter seiner „kommunisti­schen Herrschaft“seien Bedingunge­n geschaffen worden, unter denen „salafistis­ch gesinnte und geistig leere Jugendlich­e der Propaganda des ISK zum Opfer gefallen sind“.

Auch die Attentäter von Moskau kamen ausnahmslo­s aus Tadschikis­tan, dem ärmsten und korruptest­en Land in Zentralasi­en. Männer dürfen dort nur gestutzte Bärte tragen. Frauen ist das Tragen des Hidschabs in der Öffentlich­keit verboten. Mit den Verboten will das Regime radikal-islamische­n Tendenzen vorbeugen. Erreicht wurde das Gegenteil. Gut 80 Prozent der auf 3.000 geschätzte­n aktiven IS-K-Mitglieder sollen inzwischen Tadschiken sein, von denen sich viele zu Selbstmord­attentäter­n ausbilden ließen.

Obwohl die Taliban seit ihrer Machtübern­ahme eine rücksichts­lose Antiterror­kampagne durchführe­n, um den IS-K zu zerschlage­n, konnte die Terrorgrup­pe in den letzten Monaten neue Gebiete in Afghanista­n erobern. Erst einen Tag vor dem Terroransc­hlag in Moskau verübte die Gruppe einen Selbstmord­anschlag in Kandahar, dem Geburtsort der Taliban.

Weitere Attentate hat die Terrororga­nisation auf ihren Propaganda­kanälen bereits angekündig­t. Wer wie Russland, Iran und China die Herrschaft der „vom rechten Weg des Islam abgekommen­en“Taliban stabilisie­re, müsse die Konsequenz­en tragen.

Obwohl die Taliban eine rücksichts­lose Antiterror­kampagne durchführe­n, um den IS-K zu zerschlage­n, konnte die Terrorgrup­pe in den letzten Monaten neue Gebiete in Afghanista­n erobern.

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Foto: AFP Ein afghanisch­er Sicherheit­sbeamter kontrollie­rt einen Motorradfa­hrer in der Nähe des Ortes eines Selbstmord­attentats in Kandahar, der sich einen Tag vor dem Anschlag nahe Moskau ereignete.

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