„Von der Logik des Überbietens motiviert“
Was die tiefe Feindschaft zwischen den Taliban und der Terrororganisation „Islamischer Staat-Khorasan“mit dem verheerenden Terroranschlag in Moskau zu tun hat
Die fundamentalistischen Taliban waren unter den Ersten, die am Samstagmorgen den verheerenden Terroranschlag bei Moskau verurteilt hatten. Es sei nun eine „koordinierte, klare und entschlossene Haltung“der Länder in der Region gegen den Terror erforderlich, verlangte der Sprecher des TalibanAußenministeriums, Abdul Kahar Balchi, auf der Plattform X (ehemals Twitter). Die Terrororganisation „Islamischer Staat-Khorasan“(IS-K), die sich zu dem Überfall auf die Konzerthalle bekannt hatte, bezeichnete Balchi als eine „von Geheimdiensten gesteuerte Gruppe, die darauf abziele, den Islam zu diffamieren“.
Tatsächlich geht es dem IS-K um weitaus mehr: Die große Teile des afghanischen Ostens, an der Grenze zu Pakistan, kontrollierende Terrorgruppe will die Herrschaft der Taliban beenden und das „wahre Scharia-Recht“in der Hindukusch-Republik einführen. In den Augen des IS-K sind die Taliban „Abtrünnige und Verräter an der Geschichte Afghanistans“. In den Monaten nach ihrer Machtergreifung im August 2021 verübten IS-K-Terroristen fast täglich Anschläge auf Kontrollpunkte der Taliban.
Im darauffolgenden Jahr griffen sie auch die russische Botschaft in Kabul sowie ein bekanntes Hotel in der afghanischen Hauptstadt an, in dem viele chinesische Staatsangehörige lebten. Ziel des IS-K ist es offenbar, einen Keil zwischen die Taliban und Russland, China und Iran zu treiben – also jene Staaten, die ihre Beziehungen zu den Taliban in den letzten Monaten intensiviert haben.
Ohne Lebensmittel – und Benzineinfuhren aus dem Iran könnte das Regime der Taliban nicht überleben. Der IS-K „bestrafte“die Islamische Republik für diese Unterstützung mit einem Selbstmordanschlag in Kerman, bei dem im Januar dieses Jahres fast 100 Menschen getötet wurden. Einen Zusammenhang sehen Experten auch zwischen der Entsendung eines Militärattachés der Taliban nach Moskau Anfang des Monats und dem Terroranschlag auf die Crocus-Konzerthalle bei Moskau.
Terrorgruppe kündigt weitere Attentate an
„Der IS-K ist bei seinen Angriffen seit langem von der Logik des Überbietens motiviert“, analysiert Asfandyar Mir, ein führender Experte am United States Institute of Peace. Die Gruppe versuche rivalisierende Dschihadisten zu übertreffen, indem sie noch dreistere Anschläge verübe, um so die Führung der globalen Dschihadistenvorhut zu behaupten.
Der Islamische Staat-Khorasan – die Bezeichnung steht für eine historische Region in Zentralasien im Gebiet der heutigen Staaten Iran, Afghanistan, Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan – wurde 2015 von unzufriedenen TalibanKämpfern gegründet. Der pakistanische Geheimdienst soll damals „logistische Hilfe“geleistet haben. Die meisten Mitglieder kommen heute aus Tadschikistan. Auf der von den Taliban betriebenen Propagandaplattform „Al-Mersaad“wird Emomali Rahmonov, der seit 1994 amtierende Diktator von Tadschikistan, als der „größte Motivator des IS-K“genannt. Unter seiner „kommunistischen Herrschaft“seien Bedingungen geschaffen worden, unter denen „salafistisch gesinnte und geistig leere Jugendliche der Propaganda des ISK zum Opfer gefallen sind“.
Auch die Attentäter von Moskau kamen ausnahmslos aus Tadschikistan, dem ärmsten und korruptesten Land in Zentralasien. Männer dürfen dort nur gestutzte Bärte tragen. Frauen ist das Tragen des Hidschabs in der Öffentlichkeit verboten. Mit den Verboten will das Regime radikal-islamischen Tendenzen vorbeugen. Erreicht wurde das Gegenteil. Gut 80 Prozent der auf 3.000 geschätzten aktiven IS-K-Mitglieder sollen inzwischen Tadschiken sein, von denen sich viele zu Selbstmordattentätern ausbilden ließen.
Obwohl die Taliban seit ihrer Machtübernahme eine rücksichtslose Antiterrorkampagne durchführen, um den IS-K zu zerschlagen, konnte die Terrorgruppe in den letzten Monaten neue Gebiete in Afghanistan erobern. Erst einen Tag vor dem Terroranschlag in Moskau verübte die Gruppe einen Selbstmordanschlag in Kandahar, dem Geburtsort der Taliban.
Weitere Attentate hat die Terrororganisation auf ihren Propagandakanälen bereits angekündigt. Wer wie Russland, Iran und China die Herrschaft der „vom rechten Weg des Islam abgekommenen“Taliban stabilisiere, müsse die Konsequenzen tragen.
Obwohl die Taliban eine rücksichtslose Antiterrorkampagne durchführen, um den IS-K zu zerschlagen, konnte die Terrorgruppe in den letzten Monaten neue Gebiete in Afghanistan erobern.