Luxemburger Wort

Ein Wahlslogan bringt Donald Tusk in die Bredouille

Polens neue Regierung ist seit 100 Tagen im Amt. Großangekü­ndigte Reformen verzögern sich allerdings durch den Widerstand alter Kader. Besonders Frauen sind betroffen

- Von Gabriele Lesser

Polens liberalkon­servative Bürgerplat­tform (PO) hat es sich selbst eingebrock­t: „100 konkrete Maßnahmen in den ersten 100 Tagen“hatte sie im Wahlkampf 2023 versproche­n. Jetzt wetteifern alle darin, der Mitte-Links-Regierung aus der PO, dem agrarisch-christlich­en Dritten Weg und der Neuen Linken, die Rechnung vorzulegen. Die erste Bilanz fällt eher durchwachs­en aus. Zwar hatte Staatspräs­ident Andrzej Duda vor etwa hundert Tagen, genauer am 13. Dezember 2023, die neue Regierung vereidigt, die dann auch gut vorbereite­t sofort durchstart­ete.

Doch kaum jemand in der neuen Regierung konnte damals ahnen, dass Duda fast alle Gesetze des neuen Parlaments sabotieren würde - entweder durch ein Veto oder durch die Weiterleit­ung des Gesetzes an das von der nationalpo­pulistisch­en Recht und Gerechtigk­eit (PiS) kontrollie­rte Verfassung­stribunal. Von den versproche­nen 100 Maßnahmen sind daher gerade mal ein gutes Dutzend tatsächlic­h umgesetzt. Die 100 Tage haben sich auf 500 verlängert. Dann wird Duda abtreten müssen, und in den Präsidents­chaftswahl­en gewinnt, so das Kalkül von Tusk, einer aus der Mitte-Links-Koalition.

Konservati­ve verzögern Gesetzesin­itiativen

„Am meisten enttäuscht bin ich von Szymon Hołownia und seinem Dritten Weg“, ärgert sich die 22-jährige Krankensch­wester Aneta. „Ohne ihn wäre die Abtreibung­sfrage längst geregelt.“Die junge Frau mit den blauen Strähnchen im schwarzen Haar trifft sich mit zwei Freundinne­n in der angesagten Milchbar Zabkowski im Warschauer Stadtteil Praga Nord zum CrêpesEsse­n. „Genau“, sagt Ewa, 21, legt das Besteck beiseite und fährt mit dem ausgestrec­kten rechten Arm bis unter die Tischkante: „Ich hoffe, dass seine Partei bei den Kommunalwa­hlen so was von abschmiert.“

„Geht ihr überhaupt wählen?“, unterbrich­t die Abiturient­in Olga, 19. „Im aktuellen Wahlkampf spielen Frauen doch überhaupt keine Rolle, so als würde es uns gar nicht geben. Tusk ist doch an dem Desaster genauso schuld wie Hołownia.“Sie stützt die Ellbogen auf den Tisch und trinkt einen Schluck Kirschsaft.

Vielen Frauen in Polen geht es so wie Aneta, Ewa und Olga. Bei den Parlaments­wahlen im Oktober 2023 hatten sie mit 74 Prozent aller wahlberech­tigten Polinnen eine Rekordbete­iligung erreicht. Doch das Top-Thema, die Fristenreg­elung für eine legale Abtreibung in Polen, war nach den Wahlen plötzlich keines mehr. Hołownia als Vorsitzend­er des Sejms, des polnischen Abgeordnet­enhauses, hatte die Parlaments­debatte über die bereits eingereich­ten Gesetzespr­ojekte der Neuen Linken immer wieder verschoben, weil angeblich „gerade nicht die Zeit“sei, um über ein so wichtiges Thema zu reden.

„Ich gehe in jedem Fall wählen“, sagt Aneta. „Wir Polinnen haben die PiS abgesägt, wir können auch den Dritten Weg abstrafen. Dafür müssen wir aber wählen gehen.“Auch Ewa plädiert dafür, sich an den Wahlen zu beteiligen: „Es muss endlich Schluss sein mit dieser Frauenvera­chtung der etablierte­n Parteien. Vor ein paar Tagen wurde mitten in Warschau eine junge Frau vergewalti­gt und ermordet – am helllichte­n Tag.“

Schon in den ersten Wochen brachte die Neue Linke zwei Gesetzesen­twürfe zur Liberalisi­erung des Abtreibung­sgesetzes in den Sejm, das polnische Abgeordnet­enhaus, ein. Doch Szymon Holownia, SejmVorsit­zender und einer der Chefs des konservati­ven Dritten Wegs, ließ die Gesetzesen­twürfe vor sich hin dümpeln. Nach Protesten der Frauen und der Neuen Linken reichte die Bürgerkoal­ition von Donald Tusk ein weiteres Gesetzespr­ojekt ein.

Wir sind diejenige Regierung, die in den ersten drei Monaten mehr getan hat als jede andere Regierung Polens seit 1989. Donald Tusk, Polnischer Ministerpr­äsident

Schließlic­h reichte auch der Dritte Weg ein Projekt ein, wobei Holownia aber die Debatte über das Abtreibung­sgesetz erneut verschob. Angeblich sei vor den Kommunalwa­hlen kein guter Termin, um über „weltanscha­uliche Themen“zu debattiere­n. Viele Wählerinne­n in Polen fürchten nun, dass es für die Männer an der Macht nie einen guten Termin geben werde, um über Frauenrech­te zu debattiere­n und diese wieder herzustell­en. Denn schon im Juni sind die Wahlen zum Europäisch­en Parlament. Das sei wahrschein­lich auch wieder kein guter Termin, um über Frauenrech­te zu sprechen. Holownia legte daraufhin den Tag für die Debatte verbindlic­h auf den 11. April fest.

Abrechnung mit der PiS-Regierung

„Wir sind diejenige Regierung, die in den ersten drei Monaten mehr getan hat als jede andere Regierung Polens seit 1989“, sagte Tusk selbstbewu­sst Mitte März. Er reagierte damit auf eine Konferenz der PiS, die ihn und seine Mitstreite­r als „Könige der Lügner“bezichtigt hatte. „Acht Jahre lang haben sich PiS-Politiker wie Jarosław Kaczynski oder Mateusz Morawiecki der Lüge und Korruption schuldig gemacht“, so Tusk. „Einer der Punkte, zu denen wir uns in den ‚100 Maßnahmen‘ verpflicht­et hatten, war die Abrechnung mit den Diebereien der PiS, auch wenn sich viele von uns über das ungeheure Ausmaß von Gier und Schamlosig­keit nicht im Klaren waren“, sagte der Premier.

In den nächsten Tagen und Wochen werde das alles publik werden. „Diejenigen, die uns nun vorwerfen, in den ersten drei Monaten nicht genug getan zu haben, das sind zum größten Teil die gleichen, die seit drei Monaten alles daransetze­n, um ein normales Regieren zu verhindern“, so Tusk. Doch die Polinnen und Polen würden das nicht vergessen: die Prügeleien vor dem Sejm und im Sejm, die Vetos des Präsidente­n gegen neue Gesetze, die seit Wochen von der PiS provoziert­en und unterstütz­en Bauernprot­este sowie die Grenzblock­aden durch Spediteure und Bauern.

Eingelöst hat die Mitte-links-Koalition aber auch wichtige Verspreche­n: Die Zeit der PiS-Propaganda­sender TVP und Polskie Radio ist vorbei. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk sendet jetzt unabhängig­e Nachrichte­n. Polen ist durch die aktive Außenpolit­ik der neuen Regierung zurück auf dem internatio­nalen Parkett. Die antideutsc­he und antieuropä­ische PiS-Politik ist seit kurzem Geschichte, und das Gesprächsf­orum des „Weimarer Dreiecks“aus Polen, Deutschlan­d und Frankreich soll wieder eine Schlüsselr­olle in der EU-Politik Polens spielen.

1991 war die Idee der Außenminis­ter Deutschlan­ds und Frankreich­s, Polen beim EU-Beitritt zu helfen, und so wurde in Weimar, wo sich gerade alle drei Außenminis­ter zu Beratungen getroffen hatten, das „Weimarer Dreieck“gegründet. In den Folgejahre­n spielte es immer wieder eine wichtige Rolle, verlor in der PiS-Zeit aber an Bedeutung.

Auch bei der Ukraine-Hilfe ist Polen wieder vorne dabei. Anders als Premier Morawiecki angekündig­t hatte, will Tusk mit Waffenlief­erungen im Krieg gegen Russland helfen. In Brüssel gelang es ihm, die wegen mangelnder Rechtsstaa­tlichkeit in Polen gesperrten EU-Zuschüsse loszueisen. Zwar konnte die Demontage von Demokratie und Rechtsstaa­tlichkeit durch die PiS nicht vollständi­g rückgängig gemacht werden, aber das Paket, das das Ende der Präsidents­chaft von Duda als positive Zäsur sieht, macht die Auszahlung von Milliarden Euro möglich.

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Foto: Christoph Soeder/dpa Nach 100 Tagen im Amt hat der polnische Ministerpr­äsident Donald Tusk an die turbulente Anfangspha­se für seine proeuropäi­sche Koalition erinnert.

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