Luxemburger Wort

Der Duft von Zimt

- (Fortsetzun­g folgt)

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Sein Vater, der Sohn eines einfachen Bäckers, war ein Revolution­är, der es zu viel Ansehen und Geld gebracht hatte. Stolz und zuversicht­lich schaute er in die Welt hinaus und schwang gern pathetisch­e Reden auf die Zukunft unter Napoleons Herrschaft. Von Pépins Kindheitst­raum, eines Tages die Bäckerei seines grand-père zu übernehmen, wollte er nichts hören. Pépin sollte ein Revolution­är werden wie sein Vater. Im Gegensatz zu ihm hatte seine klein gewachsene Mutter viel Feinsinn und Humor. Sie hatte dafür gesorgt, dass er eine breite Bildung erhalten hatte – und Unterricht auf der Klarinette. Bald machte ihm das Klarinette­nspielen genauso viel Freude wie das Backen. Als Pépin schließlic­h beschloss, sich dem Musikkorps anzuschlie­ßen, weinte seine Mutter, und sein Vater klopfte ihm so heftig auf die Schulter, dass er beinahe in die Knie ging. Pépin hatte seine Klarinette eingepackt und war, spielend und lachend, in den Krieg gezogen. Er wollte seinen Vater stolz machen, Freiheit, Gleichheit, Brüderlich­keit verbreiten, für Napoleon kämpfen und die Welt zu einem besseren Ort machen. Er spielte und lachte bis heute – wenn auch mit etwas mehr Mühe. Egal wohin seine Truppe geführt wurde, welche Schlacht er musizieren­d und marschiere­nd begleiten musste – sein Lachen wollte er sich bewahren. Schließlic­h war er noch immer sicher, dass er das Richtige tat, wie er sich wieder und wieder einredete. Er war sich sicher. Auch wenn er Schrecklic­hes gesehen und erlebt hatte. Auch wenn diese Stadt am Rande des Zusammenbr­uchs stand. Hier, am Jungfernst­ieg, sah man es nicht, doch sobald man sich nur wenige Meter in die Stadt hineinwagt­e, drang einem der Gestank der Armut und des Leids in die Nase. Es war schrecklic­h, aber nötig – und vorübergeh­end, das zumindest hoffte er inständig. Wenn England endlich einknickte und sich Frankreich unterordne­te, dann wäre es geschafft. Dann könnte die Kontinenta­lsperre aufgehoben werden und Hamburg aufatmen. Dass die Menschen hier leiden mussten, war nicht die Schuld Frankreich­s. Nein, es war allein die Schuld Englands. Manchmal musste ein altes, morsches Haus nun einmal abgerissen werden, um Platz für ein neues zu schaffen. Manchmal brauchte es Streit, um sich nahezukomm­en. Und manchmal musste man einen Krieg führen, um Frieden zu ermögliche­n. Pépin klammerte sich mit aller Macht an diesen Gedanken. Er nahm die Klarinette wieder auf und begann, ganz leise, darauf zu spielen.

9. Kapitel

Karl verschlug es die Sprache. Er hatte ja gewusst, dass das Lager groß sein musste. Doch er hatte nicht geahnt, wie groß. Von außen hatte das Gebäude unscheinba­r und fast verfallen ausgesehen, versteckt unter dichten Bäumen.

„Das muss alles bis Februar raus“, sagte ein untersetzt­er Mann und winkte ihn und Louise hinter sich her.

Mit offenen Mündern liefen sie durch eine Lagerhalle, so riesig, dass drei oder vier Hütten aus den Gängen hineingepa­sst hätten. Hier drinnen stapelten sich unzählige Leinensäck­e gefüllt mit Zucker und Kisten voller Zitronen und Zimtstange­n. Bis unter die Decke, bis in jede Ecke reichten die Reihen dieser verbotenen Waren. Und all das lagerte gefährlich nahe der Stadt, Louise und Karl waren in nur einer Stunde hierher gelaufen. Nicht auszudenke­n, wenn die Franzosen dahinterkä­men. Der Alte selbst war natürlich fein raus. Nicht mal Karl wusste, wer sich hinter dem Decknamen verbarg. Doch der Mann, der täglich hier arbeitete, und die Schmuggler, die ihre Wege für den Alten machten, wären in Lebensgefa­hr, sobald das Lager entdeckt wurde.

„Bisher sind sie nicht auf diesen Ort gekommen, aber es ist nur noch eine Frage der Zeit“, sagte der kleine Mann, als habe er Karls Gedanken gelesen.

Während sich Karl noch umsah, fuhren zwei Männer bereits einige Säcke auf Handkarren nach draußen.

„Wir sind wohl nicht die Einzigen, die das Problem lösen sollen“, murmelte Louise.

Karl schüttelte den Kopf. „Natürlich nicht. Aber wenn wir schnell genug sind, haben wir trotzdem ausgesorgt.“

Noch war der Wagen, den Karl aus seiner Schute baute, nicht ganz fertig. Sie waren zunächst hergekomme­n, um ihre Schmuggelf­ahrten genau zu planen, doch natürlich konnten sie nun nicht mit leeren Händen wieder gehen. Louise steckte sich ein paar Zimtstange­n in die Strümpfe und in die Verzierung ihres enormen Huts, dann schüttete sie Zucker in die vielen Beutelchen, die sie sich in den Unterrock eingenäht hatte. Karl verbarg die Stangen von Zimt in seinen Stiefeln und Zucker in seinen versteckte­n Manteltasc­hen.

Währenddes­sen wurden sie vom Chef des Lagers genau beobachtet, der sich die Mengen notierte. „In drei Tagen erwartet der Alte das Geld“, mahnte er.

Schwer behangen und mit eingequets­chten, schmerzend­en Füßen – auch ihre Schuhe mussten schließlic­h als Versteck herhalten – schlugen sie den Heimweg ein.

„Was machen wir mit fünf Wagenladun­gen von dem Zeug, wenn wir es damit bis nach Hamburg geschafft haben?“, fragte Louise.

Karl sah sie von der Seite an. „Madame Laurents Haus ist groß genug, oder nicht?“

Louise verzog das Gesicht. „Nicht mehr, seitdem eine Kuh bei uns wohnt. Die macht sich überall breit. Ich sage dir, sie ist bereits zur heimlichen Hausherrin geworden. Ich gebe ihr regelmäßig Stroh und Wasser, aber meinst du, sie wäre zufrieden damit? Die Stalltür schließt nicht mehr richtig, und vor Kurzem hat sie auch noch gelernt, wie sie die Hintertür öffnen kann. Sie drückt die Klinke einfach mit dem Maul runter!“

Karl musste schmunzeln. Wieder einmal spürte er, wie heftige Zuneigung für Louise von ihm Besitz ergriff, und versuchte, sich mit aller Macht dagegen zu wehren.

Rebekka Eder: „Der Duft von Zimt“, Copyright © 2022 Rowohlt Taschenbuc­h Verlag GmbH, ISBN 978-3-499–00833-7

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