Luxemburger Wort

Eine Welle des Hasses schwappt durch Russland

Die vier Terroriste­n, die nach dem Blutbad bei Moskau gefasst wurden, kamen aus Tadschikis­tan. Jetzt machen nicht nur Sicherheit­sorgane Jagd auf Gastarbeit­er aus dem Land

- Von Stefan Scholl

Auch an der Moskauer Osernaja-Straße hat die Polizei einen Kontrollpu­nkt eingericht­et. „Warten Sie, wir prüfen, ob Sie in der Basis sind“, sagt der Beamte, der die Fahrzeugpa­piere einkassier­t. Schon zwei Minuten später reicht er sie wieder durchs Seitenfens­ter. „Sie können fahren“, sagt er höflich, „vielen Dank“.

Wenige Stunden zuvor hat Staatschef Wladimir Putin wieder laut darüber nachgedach­t, ob hinter dem Terroransc­hlag in der Crocus City Hall nicht jene stehen, „die seit 2014 unser Land mit den Händen des neonazisti­schen Kiewer Regimes bekämpfen.“Damit meint er den Westen, auch Luxemburg. Aber nach dem Blutbad vom vergangene­n Freitag, dem 139 Menschen zum Opfer fielen, ist ein deutscher Autofahrer in Russlands Polizeiall­tag weiter wenig verdächtig.

Ich habe Angst vor dem Flug, davor, wie man auf meinen Pass reagiert. Gjulsoda, Hausangest­ellte in Moskau

Im Gegensatz zu den Tadschiken. Denn die vier gefassten Terroriste­n kamen alle aus Tadschikis­tan. Auch wenn die zentralasi­atische Republik zu Moskaus treuen Verbündete­n gehört, Tadschiken und andere Gastarbeit­er aus dem bettelarme­n Mittelasie­n sind bei einem Großteil der Russen sehr unbeliebt. Und nach dem Terror-Freitag schwappt eine regelrecht­e Hasswelle durchs Land.

Sündenböck­e

In Moskaus Metro-Stationen halten Polizeipat­rouillen jetzt ständig junge Männer mit schwarzen Haarschöpf­en an. Viele werden abgeführt. Auch im sibirische­n Tjumen erzählten Zentralasi­aten an einem Sammelpunk­t für Tagelöhner einem Journalist­en des Portals 72.ru, gerade hätten Polizisten mit gezückten Gummiknüpp­eln ein Dutzend Gastarbeit­er abtranspor­tiert, am Vortag seien es 30 gewesen, die meisten würden nach einer Kontrolle ihrer Dokumente wieder freigelass­en. „Sie beschimpfe­n und schubsen die Leute herum, aber sie schlagen niemanden.“Moskauer Polizisten dagegen gebrauchte­n Gewehrkolb­en.

Die Tadschiken in Russland müssen jetzt nicht nur Russen in Uniformen fürchten. Im fernöstlic­hen Blagowesch­tschensk wurde laut dem Portal moskvichma­g.ru ein tadschikis­cher Verkaufsla­den angezündet. In Kaluga südlich von Moskau schlugen Unbekannte drei Tadschiken zusammen, einer landete im Krankenhau­s.

„Euer Schuppen wird bald brennen, zusammen mit euch, ihr Missgeburt­en!“Diese Drohung erschien an der Chatwand eines Friseursal­ons in dem zentralrus­sischen Städtchen Tejkowo. Dort hatte einer der mutmaßlich­en Crocus City-Terroriste­n drei Monate lang gearbeitet. „Sie rufen den ganzen Tag an, schreiben uns Drohungen“, klagt die Direktorin Jamina Safijewa der Zeitung „Moskowskij Komsomolez“. „Ich habe Angst um mein Leben.“Rechtsradi­kale wie der inhaftiert­e Z-Blogger Igor Gir

kin verbreiten seit Jahren Schauerges­chichten von mordenden und vergewalti­genden Zentralasi­aten. Russische Demografen warnen vor schleichen­der Überfremdu­ng durch kinderreic­he Migrantenf­amilien.

Und das ultranatio­nalistisch­e Portal Zargrad versichert, die vier Terroriste­n seien gewöhnlich­e Faulenzer gewesen, die sich in Russland ein schönes Leben machen wollten.

Verschärfu­ng des Ausländerg­esetzes droht

Tatsächlic­h malochen hier etwa drei Millionen Arbeitnehm­er aus Mittelasie­n, meist als Kuriere, Kellner, Verkäufer oder Straßenarb­eiter. Selbst der Duma-Abgeordnet­e Konstantin Satulin erklärte im November 2023, Russland käme nicht mehr ohne sie aus. Das hindert seine Kollegen aus dem Arbeitsmin­isterium nicht, jetzt eine Verschärfu­ng des Ausländerg­esetzes vorzuschla­gen: Künftig sollen nur noch gezielt ausgewählt­e Gastarbeit­er einreisen können, nachdem ein russischer Arbeitgebe­r sie unter Vertrag genommen hat, für nicht länger als zwei Jahre. Danach müssen sie in der Regel wieder verschwind­en.

Diese Novelle mag in der Praxis kaum taugen. Aber Russlands Taxikunden lehnen jetzt häufig tadschikis­che Fahrer ab. Der usbekische Blogger Asis Umarow stellte ein Video auf YouTube, wo Polizisten hunderte junge Migranten zu den Eingängen des Moskauer Flughafens Domodedowo eskortiere­n. Sie würden wegen Verstößen gegen das Aufenthalt­srecht deportiert.

Die Hausangest­ellte Gjulsoda hat ihr Flugticket nach Tadschikis­tan für die Maifeierta­ge storniert. „Ich habe Angst vor dem Flug, davor, wie man auf meinen Pass reagiert. Und davor, dass meine Mutter mich unter Tränen anflehen wird, nicht nach Moskau zurückzuke­hren.“Gjulsoda hat jetzt Angst, überhaupt auf die Straße zu gehen.

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Foto: AFP Die Dschihadis­tenmiliz Islamische­r Staat bekannte sich im Kurzmittei­lungsdiens­t Telegram zu dem Anschlag.
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Foto: AFP Russische Sicherheit­skräfte haben nach dem Anschlag nahe Moskau vor allem tadschikis­che Gastarbeit­er im Visier.

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