Eine Welle des Hasses schwappt durch Russland
Die vier Terroristen, die nach dem Blutbad bei Moskau gefasst wurden, kamen aus Tadschikistan. Jetzt machen nicht nur Sicherheitsorgane Jagd auf Gastarbeiter aus dem Land
Auch an der Moskauer Osernaja-Straße hat die Polizei einen Kontrollpunkt eingerichtet. „Warten Sie, wir prüfen, ob Sie in der Basis sind“, sagt der Beamte, der die Fahrzeugpapiere einkassiert. Schon zwei Minuten später reicht er sie wieder durchs Seitenfenster. „Sie können fahren“, sagt er höflich, „vielen Dank“.
Wenige Stunden zuvor hat Staatschef Wladimir Putin wieder laut darüber nachgedacht, ob hinter dem Terroranschlag in der Crocus City Hall nicht jene stehen, „die seit 2014 unser Land mit den Händen des neonazistischen Kiewer Regimes bekämpfen.“Damit meint er den Westen, auch Luxemburg. Aber nach dem Blutbad vom vergangenen Freitag, dem 139 Menschen zum Opfer fielen, ist ein deutscher Autofahrer in Russlands Polizeialltag weiter wenig verdächtig.
Ich habe Angst vor dem Flug, davor, wie man auf meinen Pass reagiert. Gjulsoda, Hausangestellte in Moskau
Im Gegensatz zu den Tadschiken. Denn die vier gefassten Terroristen kamen alle aus Tadschikistan. Auch wenn die zentralasiatische Republik zu Moskaus treuen Verbündeten gehört, Tadschiken und andere Gastarbeiter aus dem bettelarmen Mittelasien sind bei einem Großteil der Russen sehr unbeliebt. Und nach dem Terror-Freitag schwappt eine regelrechte Hasswelle durchs Land.
Sündenböcke
In Moskaus Metro-Stationen halten Polizeipatrouillen jetzt ständig junge Männer mit schwarzen Haarschöpfen an. Viele werden abgeführt. Auch im sibirischen Tjumen erzählten Zentralasiaten an einem Sammelpunkt für Tagelöhner einem Journalisten des Portals 72.ru, gerade hätten Polizisten mit gezückten Gummiknüppeln ein Dutzend Gastarbeiter abtransportiert, am Vortag seien es 30 gewesen, die meisten würden nach einer Kontrolle ihrer Dokumente wieder freigelassen. „Sie beschimpfen und schubsen die Leute herum, aber sie schlagen niemanden.“Moskauer Polizisten dagegen gebrauchten Gewehrkolben.
Die Tadschiken in Russland müssen jetzt nicht nur Russen in Uniformen fürchten. Im fernöstlichen Blagoweschtschensk wurde laut dem Portal moskvichmag.ru ein tadschikischer Verkaufsladen angezündet. In Kaluga südlich von Moskau schlugen Unbekannte drei Tadschiken zusammen, einer landete im Krankenhaus.
„Euer Schuppen wird bald brennen, zusammen mit euch, ihr Missgeburten!“Diese Drohung erschien an der Chatwand eines Friseursalons in dem zentralrussischen Städtchen Tejkowo. Dort hatte einer der mutmaßlichen Crocus City-Terroristen drei Monate lang gearbeitet. „Sie rufen den ganzen Tag an, schreiben uns Drohungen“, klagt die Direktorin Jamina Safijewa der Zeitung „Moskowskij Komsomolez“. „Ich habe Angst um mein Leben.“Rechtsradikale wie der inhaftierte Z-Blogger Igor Gir
kin verbreiten seit Jahren Schauergeschichten von mordenden und vergewaltigenden Zentralasiaten. Russische Demografen warnen vor schleichender Überfremdung durch kinderreiche Migrantenfamilien.
Und das ultranationalistische Portal Zargrad versichert, die vier Terroristen seien gewöhnliche Faulenzer gewesen, die sich in Russland ein schönes Leben machen wollten.
Verschärfung des Ausländergesetzes droht
Tatsächlich malochen hier etwa drei Millionen Arbeitnehmer aus Mittelasien, meist als Kuriere, Kellner, Verkäufer oder Straßenarbeiter. Selbst der Duma-Abgeordnete Konstantin Satulin erklärte im November 2023, Russland käme nicht mehr ohne sie aus. Das hindert seine Kollegen aus dem Arbeitsministerium nicht, jetzt eine Verschärfung des Ausländergesetzes vorzuschlagen: Künftig sollen nur noch gezielt ausgewählte Gastarbeiter einreisen können, nachdem ein russischer Arbeitgeber sie unter Vertrag genommen hat, für nicht länger als zwei Jahre. Danach müssen sie in der Regel wieder verschwinden.
Diese Novelle mag in der Praxis kaum taugen. Aber Russlands Taxikunden lehnen jetzt häufig tadschikische Fahrer ab. Der usbekische Blogger Asis Umarow stellte ein Video auf YouTube, wo Polizisten hunderte junge Migranten zu den Eingängen des Moskauer Flughafens Domodedowo eskortieren. Sie würden wegen Verstößen gegen das Aufenthaltsrecht deportiert.
Die Hausangestellte Gjulsoda hat ihr Flugticket nach Tadschikistan für die Maifeiertage storniert. „Ich habe Angst vor dem Flug, davor, wie man auf meinen Pass reagiert. Und davor, dass meine Mutter mich unter Tränen anflehen wird, nicht nach Moskau zurückzukehren.“Gjulsoda hat jetzt Angst, überhaupt auf die Straße zu gehen.