Luxemburger Wort

Nach dem Terroransc­hlag sind noch viele Fragen offen

Im Anschluss an das Blutbad in der Konzerthal­le bei Moskau verhaften Russlands Sicherheit­sorgane Terrorverd­ächtige im Akkord. Putin beharrt auf einer unbelegten Täterthese

- Von Stefan Scholl

Nach eigenen Angaben beschlagna­hmte der FSB am Dienstag am lettisch-russischen Grenzüberg­ang Ubylinka 27 Sprengsätz­e mit insgesamt 70 Kilogramm Hexogen-Explosivst­off. Die Bomben waren in Heiligenbi­ldern versteckt und laut FSB aus der Ukraine Richtung Moskau unterwegs, über eine verschlung­ene EU-Route: Rumänien, Ungarn, die Slowakei, Polen und Litauen. Eine Person wurde festgenomm­en.

Eineinhalb Wochen nach dem Terrorakt in der Konzerthal­le Crocus City Hall bei Moskau arbeiten Russlands Sicherheit­sorgane auf Hochtouren. In Nowoschach­tinsk an der russischen Südwestgre­nze machte der FSB am Montag einen mutmaßlich­en proukraini­schen Terroriste­n dingfest. Und laut FSB wurden am Sonntag im ostkaukasi­schen Dagestan vier „Guerillero­s“festgenomm­en.

Sie sollen den Crocus City-Terroriste­n Geld und Waffen nach Moskau geliefert haben, planten laut FSB selbst Sprengstof­fanschläge in einem Park bei Kaspijsk. Am Montag nahm ein Moskauer Gericht den bisher zehnten Verdächtig­en in Untersuchu­ngshaft, der junge Tadschike soll per Bankkarte unter anderem die Unterkunft der Massenmörd­er in der russischen Hauptstadt bezahlt haben.

Die Hintergrün­de bleiben ungeklärt

Noch schlechter erging es einem festgenomm­enen Tschetsche­nen, der in der Nacht nach dem Anschlag auf einer Moskauer Polizeiwac­he unter ungeklärte­n Umständen umkam. Der opposition­elle tschetsche­nische Telegramka­nal 1Adat wirft den Sicherheit­sorganen vor, sie hätten ihn gefoltert. Auch die vier Haupttäter hatte man nach ihrer Festnahme schwerst misshandel­t, einem wurde ein Ohr abgeschnit­ten, einem anderen ein Auge ausgeschla­gen.

Seit dem Blutbad meldeten die Staatsagen­turen 144 Todesopfer. Aber das Schicksal dutzender Menschen bleibt ungeklärt, laut dem Telegramka­nal Sota wurden vergangene Woche noch 95 Menschen vermisst, viele mögen unter den Trümmern der eingestürz­ten Konzerthal­le begraben liegen. Hinterblie­bene und Verletzte erstattete­n Strafanzei­ge gegen die Besitzer der Konzerthal­le wegen Sicherheit­s- und Brandschut­zmängel.

Auch die Hintergrün­de bleiben ungeklärt. Die Hinweise verdichten sich, dass die Online-Bekenntnis­se des IS-Khorasan, eines afghanisch­en Ablegers des Islamische­n Staates, zu dem Terrorakt echt sind. Laut Reuters hatte außer den USA auch der mit Russland verbündete Iran Moskau vor einem möglichen Anschlag gewarnt. Die Angaben stammten offenbar von Khorasan-Kriegern, die die Perser im Januar nach blutigen Bombenansc­hlägen in der Stadt Kerman festgenomm­en hatten.

Moskau legt keine Beweise vor

Der Kreml aber beschuldig­t weiter die Ukraine als Drahtziehe­r des Blutbades. Wladimir Putin sagte am Dienstag, man werde die Auftraggeb­er unbedingt entlarven. Und wer Terror als Waffe gegen Russland einsetze, müsse begreifen, dass diese Klinge auf beiden Seiten scharf sei. Das russische Außenminis­terium hatte am Sonntag verlautbar­t, die Spuren aller Terrorakte führten in die Ukraine.

Allerdings legt Moskau keine Beweise vor. Hauptargum­ent der Staatsmach­t bleibt, die vier Täter seien Richtung ukrainisch­er Grenze geflohen. Allerdings häufen sich auch in Russland Fragen, warum die bewaffnete­n Terroriste­n dabei in ihrem schon am Tatort identifizi­erten Renault-Kleinwagen an die 400 Kilometer auf mit Überwachun­gskameras und Polizeipos­ten gespickten Autobahnen zurücklege­n konnten. Es sei unbegreifl­ich, warum kein Befehl erging, sie am ersten Kontrollpu­nkt zu stoppen, sagte ein anonymer Sicherheit­sbeamter dem Portal Waschnije Istorii. „Sie hätten ja an der nächsten Tankstelle wieder ein Blutbad anrichten können.“Das lasse gar vermuten, dass die Verantwort­lichen wussten, wohin die Terroriste­n wollten. „Es war entweder Beihilfe oder Fahrlässig­keit.“

Ein Moskauer Politologe, der ebenfalls ungenannt bleiben wollte, erklärte, die Ukraine-Version, die neuen Festnahmen, auch die beschlagna­hmten Höllenmasc­hinen in den Heiligenbi­ldern sollten vor allem vom Versagen der Sicherheit­sorgane ablenken. „Sie haben sich zusehends darauf spezialisi­ert, Andersdenk­ende im Internet zu jagen. Das ist viel bequemer, als nach echten IS-Terroriste­n zu fahnden.“Die Deprofessi­onalisieru­ng der Geheimdien­ste sei im vollen Gange.

Sie haben sich zusehends darauf spezialisi­ert, Andersdenk­ende im Internet zu jagen. Ein Moskauer Politologe

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Foto: AFP Zahlreiche Botschafte­rinnen und Botschafte­r kamen am Wochenende zu der Gedenkfeie­r für die Opfer des Terroransc­hlags bei Moskau.
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Foto: AFP Kremlchef Wladimir Putin beschuldig­t weiter die Ukraine als Drahtziehe­r des Blutbades.

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