Nach dem Terroranschlag sind noch viele Fragen offen
Im Anschluss an das Blutbad in der Konzerthalle bei Moskau verhaften Russlands Sicherheitsorgane Terrorverdächtige im Akkord. Putin beharrt auf einer unbelegten Täterthese
Nach eigenen Angaben beschlagnahmte der FSB am Dienstag am lettisch-russischen Grenzübergang Ubylinka 27 Sprengsätze mit insgesamt 70 Kilogramm Hexogen-Explosivstoff. Die Bomben waren in Heiligenbildern versteckt und laut FSB aus der Ukraine Richtung Moskau unterwegs, über eine verschlungene EU-Route: Rumänien, Ungarn, die Slowakei, Polen und Litauen. Eine Person wurde festgenommen.
Eineinhalb Wochen nach dem Terrorakt in der Konzerthalle Crocus City Hall bei Moskau arbeiten Russlands Sicherheitsorgane auf Hochtouren. In Nowoschachtinsk an der russischen Südwestgrenze machte der FSB am Montag einen mutmaßlichen proukrainischen Terroristen dingfest. Und laut FSB wurden am Sonntag im ostkaukasischen Dagestan vier „Guerilleros“festgenommen.
Sie sollen den Crocus City-Terroristen Geld und Waffen nach Moskau geliefert haben, planten laut FSB selbst Sprengstoffanschläge in einem Park bei Kaspijsk. Am Montag nahm ein Moskauer Gericht den bisher zehnten Verdächtigen in Untersuchungshaft, der junge Tadschike soll per Bankkarte unter anderem die Unterkunft der Massenmörder in der russischen Hauptstadt bezahlt haben.
Die Hintergründe bleiben ungeklärt
Noch schlechter erging es einem festgenommenen Tschetschenen, der in der Nacht nach dem Anschlag auf einer Moskauer Polizeiwache unter ungeklärten Umständen umkam. Der oppositionelle tschetschenische Telegramkanal 1Adat wirft den Sicherheitsorganen vor, sie hätten ihn gefoltert. Auch die vier Haupttäter hatte man nach ihrer Festnahme schwerst misshandelt, einem wurde ein Ohr abgeschnitten, einem anderen ein Auge ausgeschlagen.
Seit dem Blutbad meldeten die Staatsagenturen 144 Todesopfer. Aber das Schicksal dutzender Menschen bleibt ungeklärt, laut dem Telegramkanal Sota wurden vergangene Woche noch 95 Menschen vermisst, viele mögen unter den Trümmern der eingestürzten Konzerthalle begraben liegen. Hinterbliebene und Verletzte erstatteten Strafanzeige gegen die Besitzer der Konzerthalle wegen Sicherheits- und Brandschutzmängel.
Auch die Hintergründe bleiben ungeklärt. Die Hinweise verdichten sich, dass die Online-Bekenntnisse des IS-Khorasan, eines afghanischen Ablegers des Islamischen Staates, zu dem Terrorakt echt sind. Laut Reuters hatte außer den USA auch der mit Russland verbündete Iran Moskau vor einem möglichen Anschlag gewarnt. Die Angaben stammten offenbar von Khorasan-Kriegern, die die Perser im Januar nach blutigen Bombenanschlägen in der Stadt Kerman festgenommen hatten.
Moskau legt keine Beweise vor
Der Kreml aber beschuldigt weiter die Ukraine als Drahtzieher des Blutbades. Wladimir Putin sagte am Dienstag, man werde die Auftraggeber unbedingt entlarven. Und wer Terror als Waffe gegen Russland einsetze, müsse begreifen, dass diese Klinge auf beiden Seiten scharf sei. Das russische Außenministerium hatte am Sonntag verlautbart, die Spuren aller Terrorakte führten in die Ukraine.
Allerdings legt Moskau keine Beweise vor. Hauptargument der Staatsmacht bleibt, die vier Täter seien Richtung ukrainischer Grenze geflohen. Allerdings häufen sich auch in Russland Fragen, warum die bewaffneten Terroristen dabei in ihrem schon am Tatort identifizierten Renault-Kleinwagen an die 400 Kilometer auf mit Überwachungskameras und Polizeiposten gespickten Autobahnen zurücklegen konnten. Es sei unbegreiflich, warum kein Befehl erging, sie am ersten Kontrollpunkt zu stoppen, sagte ein anonymer Sicherheitsbeamter dem Portal Waschnije Istorii. „Sie hätten ja an der nächsten Tankstelle wieder ein Blutbad anrichten können.“Das lasse gar vermuten, dass die Verantwortlichen wussten, wohin die Terroristen wollten. „Es war entweder Beihilfe oder Fahrlässigkeit.“
Ein Moskauer Politologe, der ebenfalls ungenannt bleiben wollte, erklärte, die Ukraine-Version, die neuen Festnahmen, auch die beschlagnahmten Höllenmaschinen in den Heiligenbildern sollten vor allem vom Versagen der Sicherheitsorgane ablenken. „Sie haben sich zusehends darauf spezialisiert, Andersdenkende im Internet zu jagen. Das ist viel bequemer, als nach echten IS-Terroristen zu fahnden.“Die Deprofessionalisierung der Geheimdienste sei im vollen Gange.
Sie haben sich zusehends darauf spezialisiert, Andersdenkende im Internet zu jagen. Ein Moskauer Politologe