Belgien ändert die Verjährungsfrist – und Luxemburg?
Verbrechen können durch längere Fristen vor dem Verfall bewahrt werden. Das ist ein wichtiges Signal. Doch es gibt Risiken. Eine Analyse
Der März 2024 dürfte als Wendepunkt in die belgische Kriminalgeschichte eingehen: Seit vergangenem Donnerstag sind im Nachbarland nicht nur Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord, Kriegsverbrechen und Sexualdelikte an Minderjährigen von der Verjährung ausgenommen, sondern auch besonders schwere Morde und Raub. Konkret handelt es sich dabei um „Verbrechen, die wegen ihres Ausmaßes, insbesondere wegen der Zahl der Opfer oder wegen des Schreckens, den sie bei der Bevölkerung hervorgerufen haben, als besonders schwer gelten“. Darunter fallen auch Verbrechen, die darauf abzielen, „die Grundstrukturen des Landes zu destabilisieren oder zu zerstören“.
Keine Gnade für die Killer von Brabant
Wer Belgien kennt, weiß, dass diese Beschreibung wie maßgeschneidert ist für einen Fall, der seit über 40 Jahren wie eine offene Wunde an dem Land hängt – weil er nie aufgeklärt werden konnte: „Les Tueurs Fous du Brabant“oder auf Flämisch „Bende van Nijvel“. Eine Verbrecherbande, die Belgien einen blutigen Tribut abverlangte: 28 Tote und 20 Verletzte bei einer Serie von außergewöhnlich kaltblütigen Überfällen zwischen 1982 und 1985.
Allein der letzte Überfall am 9. November 1985 auf einen Delhaize-Supermarkt in Aalst forderte acht Tote und neun Verletzte. Am 10. November 2025 wäre dieses Verbrechen nach bisherigem Recht verjährt und niemand hätte mehr zur Verantwortung gezogen werden können. Dies wurde nun durch die Gesetzesänderung verhindert.
Die Parallelen zum Luxemburger Bommeleeër-Fall sind schon wegen des gleichen Zeitfensters unübersehbar: 20 Anschläge, 21 Explosionen, aber kein einziges Todesopfer in den Jahren 1984 bis 1986. Und als 2013 der Bommeleeër-Prozess eröffnet wurde, stellte sich auch hierzulande die Frage der Verjährung.
Wie die Justiz die Verjährung für Bommeleeër verhinderte
Grundsätzlich verjähren im Großherzogtum Verbrechen nach zehn Jahren, Vergehen nach fünf Jahren und Übertretungen nach nur einem Jahr. Hinzu kommt eine zivilrechtliche Verjährungsfrist von 30 Jahren.
Im Fall Bommeleeër hatte die Staatsanwaltschaft bereits bei der Anklageerhebung gegen zwei Verdächtige im Jahr 2007, also 24 Jahre nach Beginn der Anschlagsserie, für Klarheit gesorgt: Der Fall ist nicht verjährt – auch wenn die Taten mehr als zehn Jahre zurückliegen. Denn in Luxemburg unterbricht
jede konkrete Ermittlungsmaßnahme in einem Fall dessen Verjährungsfrist für weitere zehn Jahre.
Hinzu kommt: Auch Urteile verjähren. Bei Entscheidungen der Kriminalkammern ist dies nach 20 Jahren der Fall, bei Entscheidungen der Strafkammern nach fünf Jahren.
Es gibt jedoch Ausnahmen. So verjähren schwere Verletzungen des humanitären Völkerrechts nie. Sind Minderjährige Opfer, verjähren bestimmte Straftaten frühestens zehn Jahre nach Eintritt der Volljährigkeit. Dies gilt zum Beispiel für unfreiwillige Abtreibung, sexuelle Belästigung und sexuellen Missbrauch, Menschenhandel, Gewalt und Deprivation, Genitalverstümmelung und Freiheitsberaubung.
Werden sexuelle Belästigung und sexueller Missbrauch unter Anwendung oder Androhung von Gewalt oder durch ein Familienmitglied begangen, beträgt die Verjährungsfrist 30 Jahre. Vergewaltigung, also die sexuelle Penetration eines Minderjährigen, verjährt seit einer Gesetzesänderung im vergangenen August nie.
Wichtig ist jedoch: Straftaten, die vor August 2023 bereits verjährt waren, sind und bleiben verjährt. Die Gesetzesänderung führt also nicht dazu, dass bereits verjährte Altfälle wieder ausgegraben werden.
Keine falschen Hoffnungen bei Missbrauchsopfern wecken
Bevor die Gesetzesänderung im August 2023 in Kraft tritt, hatte die Generalstaatsanwaltschaft in ihrem „Avis“allerdings davor gewarnt, dass die Verlängerung oder gar Abschaffung der Verjährungsfristen bei den Opfern falsche Hoffnungen wecken könnte.
Denn je mehr Zeit seit der Tat vergeht, desto schwieriger wird die Beweisführung, zu der die Staatsanwaltschaft verpflichtet ist.
Bei Sexualdelikten mache es in einem entscheidenden Punkt keinen Unterschied, ob das Opfer volljährig oder minderjährig ist: „Die Erfahrung zeigt, dass in den meisten Fällen erst spät, also Monate oder sogar Jahre nach der Tat, Anzeige erstattet wird“, so die Generalstaatsanwaltschaft. Verfahren auf frischer Tat seien selten. Daher gebe es nur in Ausnahmefällen Sachbeweise wie DNA-Spuren, die einen Täter überführen könnten.
„In der überwiegenden Zahl der Fälle sind die einzigen Beweismittel die Aussagen des Opfers, die durch die Aussagen möglicher Zeugen zu stützen und nach Möglichkeit durch Sachbeweise zu erhärten sind“, heißt es in der Stellungnahme weiter.
Seit einer Gesetzesänderung im Jahr 2023 verjährt die Vergewaltigung von Minderjährigen nie.
Die Vergänglichkeit des Gedächtnisses ist ein Problem
So könnte beispielsweise überprüft werden, ob der vom Opfer beschriebene Raum, in dem sich die mutmaßliche Tat ereignet haben soll, tatsächlich mit den Angaben des Opfers übereinstimmt. Im Laufe der Zeit verblasse das Gedächtnis des Opfers aber ebenso wie jenes möglicher Zeugen und sogar jenes des beschuldigten Täters. Orte werden sich verändert haben oder gar nicht mehr existieren. Menschen, die etwas beobachtet haben könnten, und auch der Täter seien vielleicht nicht mehr am Leben.
Die Folgen sind gravierend: Der Verlust von Beweismitteln kann die Ursache dafür sein, dass es häufiger zu Einstellungen von Verfahren oder Freisprüchen kommt. Die Opfer sind frustriert und haben den Eindruck, dass die Justiz zu lasch vorgeht und die Täter ungestraft davonkommen lässt.
Eine Frage der Menschenrechte
Und noch eine Frage stellt sich: Verstößt es nicht gegen Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention, wenn Strafverfolgung und Anklage auch nach vielen Jahren noch möglich sind? Schließlich bedeutet das Recht auf ein faires Verfahren auch, dass der Fall in angemessener Zeit verhandelt wird. Denn: Jeder hat nicht nur das Recht, sich innerhalb einer angemessenen Frist zu äußern, sondern vor allem auch das Recht, sich unter Bedingungen äußern zu können, die eine angemessene Verteidigung ermöglichen. Diese Bedenken werden auch von der Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Stellungnahme geteilt.
Sie formuliert die entscheidende Frage wie folgt: Kann sich der Verdächtige 20, 30 oder 40 Jahre nach der sogenannten Tat noch auf entlastende Umstände berufen, wie die Aufnahme von Entlastungszeugen, die Überprüfung von Alibis oder gar die sachliche Überprüfung bestimmter Tatsachen oder Orte, wenn diese einfach nicht mehr existieren?
Auch wenn dieser Umstand nach der Luxemburger Rechtsprechung die Strafverfolgung an sich grundsätzlich nicht einschränkt. Er kann aber dazu führen, dass die Strafe auf das gesetzliche Mindestmaß herabgesetzt wird oder sich das Gericht sogar auf die Feststellung der Schuld beschränkt, ohne eine Strafe zu verhängen.
Dieser Aspekt ist auch im Bommeleeër-Prozess von großer Bedeutung. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass die beiden Beschuldigten, die seit 2007, also seit nunmehr 17 Jahren, unter Anklage stehen, selbst im Falle eines Schuldspruchs im Bommeleeër-Prozess zu einer Freiheitsstrafe oder Geldstrafe verurteilt werden. Das Fazit fällt daher verhalten aus: Die Verlängerung der Fristen kann ein Vorteil sein, birgt aber immer das Risiko, dass der Schuss nach hinten losgeht.