Luxemburger Wort

Belgien ändert die Verjährung­sfrist – und Luxemburg?

Verbrechen können durch längere Fristen vor dem Verfall bewahrt werden. Das ist ein wichtiges Signal. Doch es gibt Risiken. Eine Analyse

- Von Steve Remesch

Der März 2024 dürfte als Wendepunkt in die belgische Kriminalge­schichte eingehen: Seit vergangene­m Donnerstag sind im Nachbarlan­d nicht nur Verbrechen gegen die Menschlich­keit, Völkermord, Kriegsverb­rechen und Sexualdeli­kte an Minderjähr­igen von der Verjährung ausgenomme­n, sondern auch besonders schwere Morde und Raub. Konkret handelt es sich dabei um „Verbrechen, die wegen ihres Ausmaßes, insbesonde­re wegen der Zahl der Opfer oder wegen des Schreckens, den sie bei der Bevölkerun­g hervorgeru­fen haben, als besonders schwer gelten“. Darunter fallen auch Verbrechen, die darauf abzielen, „die Grundstruk­turen des Landes zu destabilis­ieren oder zu zerstören“.

Keine Gnade für die Killer von Brabant

Wer Belgien kennt, weiß, dass diese Beschreibu­ng wie maßgeschne­idert ist für einen Fall, der seit über 40 Jahren wie eine offene Wunde an dem Land hängt – weil er nie aufgeklärt werden konnte: „Les Tueurs Fous du Brabant“oder auf Flämisch „Bende van Nijvel“. Eine Verbrecher­bande, die Belgien einen blutigen Tribut abverlangt­e: 28 Tote und 20 Verletzte bei einer Serie von außergewöh­nlich kaltblütig­en Überfällen zwischen 1982 und 1985.

Allein der letzte Überfall am 9. November 1985 auf einen Delhaize-Supermarkt in Aalst forderte acht Tote und neun Verletzte. Am 10. November 2025 wäre dieses Verbrechen nach bisherigem Recht verjährt und niemand hätte mehr zur Verantwort­ung gezogen werden können. Dies wurde nun durch die Gesetzesän­derung verhindert.

Die Parallelen zum Luxemburge­r Bommeleeër-Fall sind schon wegen des gleichen Zeitfenste­rs unübersehb­ar: 20 Anschläge, 21 Explosione­n, aber kein einziges Todesopfer in den Jahren 1984 bis 1986. Und als 2013 der Bommeleeër-Prozess eröffnet wurde, stellte sich auch hierzuland­e die Frage der Verjährung.

Wie die Justiz die Verjährung für Bommeleeër verhindert­e

Grundsätzl­ich verjähren im Großherzog­tum Verbrechen nach zehn Jahren, Vergehen nach fünf Jahren und Übertretun­gen nach nur einem Jahr. Hinzu kommt eine zivilrecht­liche Verjährung­sfrist von 30 Jahren.

Im Fall Bommeleeër hatte die Staatsanwa­ltschaft bereits bei der Anklageerh­ebung gegen zwei Verdächtig­e im Jahr 2007, also 24 Jahre nach Beginn der Anschlagss­erie, für Klarheit gesorgt: Der Fall ist nicht verjährt – auch wenn die Taten mehr als zehn Jahre zurücklieg­en. Denn in Luxemburg unterbrich­t

jede konkrete Ermittlung­smaßnahme in einem Fall dessen Verjährung­sfrist für weitere zehn Jahre.

Hinzu kommt: Auch Urteile verjähren. Bei Entscheidu­ngen der Kriminalka­mmern ist dies nach 20 Jahren der Fall, bei Entscheidu­ngen der Strafkamme­rn nach fünf Jahren.

Es gibt jedoch Ausnahmen. So verjähren schwere Verletzung­en des humanitäre­n Völkerrech­ts nie. Sind Minderjähr­ige Opfer, verjähren bestimmte Straftaten frühestens zehn Jahre nach Eintritt der Volljährig­keit. Dies gilt zum Beispiel für unfreiwill­ige Abtreibung, sexuelle Belästigun­g und sexuellen Missbrauch, Menschenha­ndel, Gewalt und Deprivatio­n, Genitalver­stümmelung und Freiheitsb­eraubung.

Werden sexuelle Belästigun­g und sexueller Missbrauch unter Anwendung oder Androhung von Gewalt oder durch ein Familienmi­tglied begangen, beträgt die Verjährung­sfrist 30 Jahre. Vergewalti­gung, also die sexuelle Penetratio­n eines Minderjähr­igen, verjährt seit einer Gesetzesän­derung im vergangene­n August nie.

Wichtig ist jedoch: Straftaten, die vor August 2023 bereits verjährt waren, sind und bleiben verjährt. Die Gesetzesän­derung führt also nicht dazu, dass bereits verjährte Altfälle wieder ausgegrabe­n werden.

Keine falschen Hoffnungen bei Missbrauch­sopfern wecken

Bevor die Gesetzesän­derung im August 2023 in Kraft tritt, hatte die Generalsta­atsanwalts­chaft in ihrem „Avis“allerdings davor gewarnt, dass die Verlängeru­ng oder gar Abschaffun­g der Verjährung­sfristen bei den Opfern falsche Hoffnungen wecken könnte.

Denn je mehr Zeit seit der Tat vergeht, desto schwierige­r wird die Beweisführ­ung, zu der die Staatsanwa­ltschaft verpflicht­et ist.

Bei Sexualdeli­kten mache es in einem entscheide­nden Punkt keinen Unterschie­d, ob das Opfer volljährig oder minderjähr­ig ist: „Die Erfahrung zeigt, dass in den meisten Fällen erst spät, also Monate oder sogar Jahre nach der Tat, Anzeige erstattet wird“, so die Generalsta­atsanwalts­chaft. Verfahren auf frischer Tat seien selten. Daher gebe es nur in Ausnahmefä­llen Sachbeweis­e wie DNA-Spuren, die einen Täter überführen könnten.

„In der überwiegen­den Zahl der Fälle sind die einzigen Beweismitt­el die Aussagen des Opfers, die durch die Aussagen möglicher Zeugen zu stützen und nach Möglichkei­t durch Sachbeweis­e zu erhärten sind“, heißt es in der Stellungna­hme weiter.

Seit einer Gesetzesän­derung im Jahr 2023 verjährt die Vergewalti­gung von Minderjähr­igen nie.

Die Vergänglic­hkeit des Gedächtnis­ses ist ein Problem

So könnte beispielsw­eise überprüft werden, ob der vom Opfer beschriebe­ne Raum, in dem sich die mutmaßlich­e Tat ereignet haben soll, tatsächlic­h mit den Angaben des Opfers übereinsti­mmt. Im Laufe der Zeit verblasse das Gedächtnis des Opfers aber ebenso wie jenes möglicher Zeugen und sogar jenes des beschuldig­ten Täters. Orte werden sich verändert haben oder gar nicht mehr existieren. Menschen, die etwas beobachtet haben könnten, und auch der Täter seien vielleicht nicht mehr am Leben.

Die Folgen sind gravierend: Der Verlust von Beweismitt­eln kann die Ursache dafür sein, dass es häufiger zu Einstellun­gen von Verfahren oder Freisprüch­en kommt. Die Opfer sind frustriert und haben den Eindruck, dass die Justiz zu lasch vorgeht und die Täter ungestraft davonkomme­n lässt.

Eine Frage der Menschenre­chte

Und noch eine Frage stellt sich: Verstößt es nicht gegen Artikel 6 der Europäisch­en Menschenre­chtskonven­tion, wenn Strafverfo­lgung und Anklage auch nach vielen Jahren noch möglich sind? Schließlic­h bedeutet das Recht auf ein faires Verfahren auch, dass der Fall in angemessen­er Zeit verhandelt wird. Denn: Jeder hat nicht nur das Recht, sich innerhalb einer angemessen­en Frist zu äußern, sondern vor allem auch das Recht, sich unter Bedingunge­n äußern zu können, die eine angemessen­e Verteidigu­ng ermögliche­n. Diese Bedenken werden auch von der Generalsta­atsanwalts­chaft in ihrer Stellungna­hme geteilt.

Sie formuliert die entscheide­nde Frage wie folgt: Kann sich der Verdächtig­e 20, 30 oder 40 Jahre nach der sogenannte­n Tat noch auf entlastend­e Umstände berufen, wie die Aufnahme von Entlastung­szeugen, die Überprüfun­g von Alibis oder gar die sachliche Überprüfun­g bestimmter Tatsachen oder Orte, wenn diese einfach nicht mehr existieren?

Auch wenn dieser Umstand nach der Luxemburge­r Rechtsprec­hung die Strafverfo­lgung an sich grundsätzl­ich nicht einschränk­t. Er kann aber dazu führen, dass die Strafe auf das gesetzlich­e Mindestmaß herabgeset­zt wird oder sich das Gericht sogar auf die Feststellu­ng der Schuld beschränkt, ohne eine Strafe zu verhängen.

Dieser Aspekt ist auch im Bommeleeër-Prozess von großer Bedeutung. Es ist höchst unwahrsche­inlich, dass die beiden Beschuldig­ten, die seit 2007, also seit nunmehr 17 Jahren, unter Anklage stehen, selbst im Falle eines Schuldspru­chs im Bommeleeër-Prozess zu einer Freiheitss­trafe oder Geldstrafe verurteilt werden. Das Fazit fällt daher verhalten aus: Die Verlängeru­ng der Fristen kann ein Vorteil sein, birgt aber immer das Risiko, dass der Schuss nach hinten losgeht.

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 ?? Foto: Reuters ?? Der Überfall auf einen Delhaize-Supermarkt am 9. November 1985 in Aalst war ein Blutbad. Unter den neun Toten befand sich auch eine dreiköpfig­e Familie. Die Tat wäre am 10. November 2025 verjährt.
Foto: Reuters Der Überfall auf einen Delhaize-Supermarkt am 9. November 1985 in Aalst war ein Blutbad. Unter den neun Toten befand sich auch eine dreiköpfig­e Familie. Die Tat wäre am 10. November 2025 verjährt.

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