Der Unruhestand des Gast Waltzing
Luxemburgs Grammy-Gewinner will sich von der Verrentung nicht ausbremsen lassen. Im Gegenteil: Ein neuer Coup ist in Arbeit
Ohne einen kräftigen Schluck japanischen Tee aus dem passenden Service geht erst mal gar nichts. „Ich habe da meine Quellen im Land, die ihn importieren“, sagt Gast Waltzing mit leicht verschwörerischer Mine. Etwas Muße zum Genuss in seinem Lieblingsstuhl brauche er morgens – aber dann warten schon die Aufgaben.
Nicht etwa, dass ihn die offizielle Verrentung als Leiter und Aufbauer der Jazzsektion am hauptstädtischen Musikkonservatorium tatsächlich ausgebremst hätte – „gut“, so sagt Luxemburgs markanter Grammy-Gewinner, „da kam zum Einstieg in die Rente noch Corona dazu. Da waren dann schon sehr viele Fragezeichen da, wie es weitergehen sollte. Andererseits konnte ich nun ganz ohne die Lehrtätigkeit auch freier schauen, was ich machen möchte.“
Die Trompete? Sie verstaubt zwar nicht, und dennoch fokussiert er sich musikalisch eben anders. Spätestens mit dem letzten Jahr platzte der Terminkalender wieder aus allen Nähten: da waren die Tourtermine mit Alphaville und dem Filmorchester Babelsberg oder die weiter fortgeführten Zusammenarbeiten mit Angélique Kidjo und Kyle Eastwood.
Und die Erinnerungen an die immer neuen musikalischen Momente wirken nach. „Ganz ehrlich: Da vor Tausenden in der Berliner Mercedes-Benz-Arena zum Alphaville-Tourende das Orchester zu dirigieren und die gesamte Halle singt ,Forever Young‘ mit? Das kann nicht spurlos an einem vorbeigehen.“
All’ das aber läuft immer wieder auf den Luxemburger Kern hinaus: Gast Waltzings Arbeitsmittelpunkt ist neben den Aufführungsterminen in den vergangenen Jahren neben Aufführungsterminen immer mehr sein Heim geworden. Dort laufen nicht nur die Fäden des mit seiner Frau Maggie betriebenen Labels Waltzing Parke zusammen, sondern dort ist auch sein Studio, in dem er an vielerlei Projekten tüftelt. Aktuell überarbeitet er die Partituren für seinen nächsten musikalischen Coup: „Ich bin gespannt, wie die Leute das in der Philharmonie aufnehmen werden“, sagt er.
Am 8. Mai wird die Premiere in Kirchberg sein: Zara McFarlane wird nach Luxemburg kommen. Die 40-Jährige gilt als absolute Ausnahmestimme aus dem Vereinigten Königreich. Ausgangspunkt waren ihre Neufassungen der Sarah VaughanInterpretationen von Jazzklassikern. „Das nun nur ein bisschen für Live-Jazztrio oder so zu arrangieren, war nicht interessant“, sagt Waltzing zu der einstigen Anfrage der Jazz-Sängerin an ihn.
Stattdessen zog und zieht Waltzing die großen Register und macht einen breiten Bogen daraus. Zara McFarlane, die Luxemburger Philharmoniker und er huldigen so im Schulterschluss der 1990 verstorbenen Altmeisterin Sarah Vaughan, die in diesem Jahr ihren 100. Geburtstag gefeiert hätte.
Der Mehrwert: Waltzing schneidert McFarlane komplexe Arrangements mit großer Orchesterbesetzung, Elektronik und somit weit mehr als die übliche Rhythmussection auf Maß. „Selbst Bassklarinette und Kontrafagott sind im Instrumentarium dabei. Und der Drummer Niels Engel wird mit normalem Set und Electronic zum Beispiel auch mit ins Orchester integriert.“
Moment! Waltzing und Electro-Sounds? „Ja, auch ich lerne immer wieder dazu“, betont er lächelnd. Und mit Jean-Jacques Mailliet hat er seit Jahren einen seiner ehemaligen Schüler an der Hand, der Spezialist auf dem Terrain ist. Das spiegelt sich in den Arrangements wider, die Waltzing so betont er, „auch wirklich gemeinsam erarbeitet wurden“. „Deswegen ist JeanJacques bei den Arrangements immer ganz bewusst gemeinsam mit mir als Arrangeur genannt.“Und für Zara McFarlane? Ihr ist der Bezug zu elektronisch erzeugten Klangkonstruktionen seit ihrem Album „Songs of an Unknown Tongue“aus dem Jahr 2020 nicht wirklich fremd.
„Davon wird man nicht dumm, jungen Menschen zuzuhören“, stellt er fest. Spätestens die Arbeit um das Konzert „LëtzMusek“habe das unterstrichen. Andererseits würde man kaum mit Waltzing weiter zusammenarbeiten, wenn nicht mindestens ein gewisser Respekt gegenüber seiner Lebensleistung da wäre – und in seinen Augen auf der anderen Seite Talent vorläge.
Als Dirigent fühlt er sich aber dann doch eher wie in einer „demokratischen Diktatur“, in der einer „halt irgendwann die Entscheidung treffen muss und dafür Verantwortung übernehmen muss.“. Er gibt aber zu: „Mit dem Alter fällt es leichter, zu sagen: ,Nimm dich nicht zu wichtig’.“
Der Leistungswille und die Qualität müssen stimmen
Leitlinien muss er natürlich vorgeben. „Es wird für die Musiker des Orchesters gar nicht so leicht. Die Arrangements für Zara haben es in sich“, sagt Waltzing zum Zuschnitt der Titel. Im besten Fall aber wären sie eine Steilvorlage, damit einmal mehr die Leistungsfähigkeit und damit als Aushängeschild auch die Vielfältigkeit der Luxemburger Philharmoniker zu unterstreichen. „Wir haben unter anderem Kurt Weills ,September Song‘ quasi einmal komplett auseinandergenommen und wie in einer Art Symphonie neu eingepackt. Und das Management von Zara hat schon großes Interesse daran, das Ganze auf Tour zu bringen. Das zeigt schon die Vorfreude. Aber zunächst nun der erste Termin in Kirchberg.“
Als wäre das nicht schon genug, läuft die Arbeit auch an anderen Projekten weiter. Gerade wurde ebenfalls mit den Luxemburger Philharmoniker neue Filmmusik eingespielt, die Waltzing komponiert hat. Zusammen mit einem Schweizer Komponisten formt er aber ebenso die Musik für eine neue Arte-Serie. Mit Dobet Gnahore soll Ende des Jahres ein Album erscheinen – von der Kooperation mit der Japanerin Shiho einmal ganz abgesehen.
Ist das nicht zuviel? „Nein, es läuft ja und noch macht mir das alles Freude. Gerade, weil es alles Brückenschläge über die Genregrenzen hinweg sind“, sagt Waltzing. Dass er damit in Zeiten der Konflikte für die Diversität und kulturellen Austausch einsteht? Plakativ ans Revers heftet er sich das nicht.
Dass RTL ihn nicht gefragt hat, ob er vielleicht das Eurovision Song Contest-Projekt begleiten würde? Geschenkt. Niemand aus der Luxemburger Komponisten- und Fachszene will aktuell wirklich über den Prozess zur ESC-Wiedereinstieg nach dem Luxemburger Vorentscheid mit Freude sprechen. Waltzing erlaubt sich die Spitze, dass von dem Luxemburger ESC-Geld „ganz andere längerfristige Förderungen für Künstlerinnen und Künstler möglich gewesen wären.“Als Mitinitiator des einstigen Exportbüros Musik:LX, das heute als Sparte im Arts Council Kultur:LX aufgegangen ist, kennt er die sonstigen Fördermittel im Bereich Musik sehr genau. Dass die ESC-Plattform aber auch ein vom Hunderten Millionen Menschen verfolgtes Spektakel ist und auch seine Folgen für eine internationale Aufmerksamkeit haben kann, rückt er dabei bewusst nicht ins Licht.
Prüfsteine in der Musikförderung
Es gäbe aber dennoch so viele weitere Chancen, die in den Augen Waltzings noch
Meinen Sie, der Grammy wäre mir einfach so in den Schoß gefallen? Ich habe vor Angélique Kidjo schon Orchesterarrangements für Stars wie Gregory Porter geschrieben. Das brauchte Zeit, bis eine Anerkennung da war und man mir zutraute, dass ich wirklich abliefere. Gast Waltzing
nicht genutzt würden. Zumindest wäre ihm die Debatte darum lieb. „Warum zum Beispiel wird so ein offensichtlich breit angenommenes Konzept wie die Sommerkonzerte auf der Kinnekswiss nicht bewusst erweitert und als Forum für Luxemburger Musikerinnen und Musiker genutzt? Oder nehmen wir die Eingliederung von Musik:LX unter das Exportbüro Kultur:LX. Muss wirklich der inzwischen extrem bürokratische Aufwand für die Künstlerinnen und Künstler sein? Lässt sich das nicht vereinfachen? Und sind die Hilfen wirklich so sinnvoll? Gäbe es nicht Möglichkeiten für langfristigere Unterstützungen von starken Talenten als dieses breite Verteilen von Kleinsummen auf viele Köpfe?“, fragt Waltzing.
Er regt zu regelmäßigen Gesprächsrunden an, um die Rahmenbedingungen zwischen Förderinstitutionen, Kulturpolitik und Kulturschaffenden auf den Prüfstand zu stellen. Er habe zwar einen Termin mit dem neuen Kulturminister Eric Thill – doch das erst Richtung Sommer. Echtes Interesse auch aus anderen Teilen der Kulturfunktionäre sähe anders aus. Es ist seine Erfahrung, die er weiterhin einbringen will.
Das schließt zum Beispiel auch die Fragen um Urheberrechte neben der eigentlichen Musik ein – die Musikrechtsagentur Sacem in Luxemburg geht auf Initiativen um Waltzing zurück.
Diese Aufbauarbeit sei unerlässlich gewesen; die Erfolge mussten über Jahre erkämpft werden. „Meinen Sie, der Grammy wäre mir einfach so in den Schoß gefallen? Ich habe vor Angélique Kidjo schon Orchesterarrangements für Stars wie Gregory Porter geschrieben. Das brauchte Zeit, bis eine Anerkennung da war und man mir zutraute, dass ich wirklich abliefere. So ist das Business eben auch“, betont er durchaus mit strengem Unterton.
„Oder glauben Sie, dass die Luxemburger Philharmoniker da bei allem mitmachen würden, wenn da nicht Substanz und Vertrauen dahinter ist? Das muss ich schon auch beweisen. Mit jedem Projekt. Nach der Tour mit dem Filmorchester Babelsberg ist auch dort Interesse an mehr entstanden. Aber auch nur, weil eben die Tour gezeigt hat, dass es miteinander passt“, hält er fest und blickt auf die Uhr. Die Partituren für die Philharmoniker und McFarlane warten schon auf ihre Korrekturen.