Die goldene Regel
Orange oder andere Farben wurden nicht geduldet. Jesus musste „hautfarben“, also weiß, sein. So wie die meisten Schüler, die bei mir in der Grundschule im Religionsunterricht saßen. Die Lehrerin bestand aber darauf: Für sie war die Frage der Hautfarbe eine goldene Regel. Im Unterricht mussten wir viel malen. Oft erhielten wir Zeichnungen als Hausaufgabe. Statt draußen mit Freunden zu spielen, haben wir dann Bilder von Jesus und seinen Jüngern gemalt.
Statt draußen mit Freunden zu spielen, haben wir Bilder von Jesus und seinen Jüngern ausgemalt.
Wer es wagte, mit unvollständig ausgemalten Bildern in den Unterricht zu kommen, musste die Reaktion der Lehrerin tatsächlich fürchten. Insbesondere, wenn Jesus auf den Bildern nicht „hautfarben“war. So habe Jesus nicht ausgesehen, hieß es dann. Dabei streitet die Wissenschaft bis heute über das Aussehen des Sohn Gottes. Für das Verständnis der Werte des Christentums ist dies meiner Meinung nach jedoch unerheblich.
Ich erinnere mich noch gut an einen leicht ockerfarbenen Bleistift, der meist als „Hautfarbe“durchging, aber auch dann nur, wenn ich darauf achtete, nicht zu viel Druck auszuüben. Solche Tricks musste man sich einfallen lassen, wenn man sich die gehässigen Kommentare der Lehrkraft ersparen wollte. Aus heutiger Sicht ist das erschreckend. Aber schon damals bereitete mir nicht nur die Angst vor der Lehrerin Unbehagen. Wir hatten in unserer Klasse nämlich auch eine schwarze Mitschülerin. Jahre später wurde mir erst richtig bewusst, wie verletzend die Engstirnigkeit der Lehrerin gewesen sein muss.
Die Religionslehrerin mit ihrem eingeengten Weltbild stand im krassen Gegensatz zu der Religionslehrerin, die ich vorher hatte. Diese hatte ein gutes Herz und wurde von ihren Schülern geliebt und respektiert. Von ihr lernte man intuitiv, stets zu versuchen, nett zu anderen Menschen zu sein – und das ist für mich auch die eigentliche goldene Regel von Jesus. Mike