Der ganz intime Blick auf Steichen und seine Leidenschaften
Edward Steichen macht mal wieder von sich reden. In diesem Fall mit erstmals gezeigten, zum Teil gewagt privaten Aufnahmen, die das Nationalmuseum vorstellt
Er war Pionier – in vielerlei Hinsicht. Kein Westernheld, aber einer, der mit europäischen Wurzeln und Prägungen in und dank seines Umfelds in den Vereinigten Staaten neue Wege einschlug; oft genug, ohne dass das lange in seiner ganzen Breite bemerkt wurde. Ist das Leben Steichens wirklich den Luxemburgerinnen und Luxemburgern so bewusst?
Sicher: Bekannt sind im Großherzogtum die Ergebnisse; insbesondere die von ihm einst kuratierten Schauen „Family of Men“als Weltdokumentenerbe und „Bitter Years“, die der Oberaufsicht des Centre National de l’Audiovisuel unterstehen. Und natürlich die Steichen-Sammlung des Nationalmuseums (MNAHA).
Aber wird die Person selbst darin so deutlich? Dank Gerd Hurm, inzwischen emeritierter Professor an der Universität Trier, rückten Steichens intime Leidenschaften und Passionen ganz neu in den Fokus. Was fotografierte er selbst mit spürbarem Biss und was dachte er zu seiner Zeit zum Teil atemberaubend neu? Und wie war sein Privatleben mit seiner deutlich jüngeren Frau Joanna? Dazu gab es bisher oft nur ganz wenig erhaltenes Bildmaterial. Bis jetzt!
Das Kommunikationsteam des Nationalmuseums jubiliert geradezu um die im März angelaufene Schau „From aerial views to pink suits – A fresh perspective on Edward Steichen“: „Das ist Steichen, wie Sie ihn noch nie gesehen haben! Die Ausstellung bietet einen neuen Blick auf den luxemburgisch-amerikanischen Fotografen und zeigt eine spannende Auswahl an kürzlich erworbenen Abzügen von Edward Steichen. Damit wird die Sammlung des Museums zur umfangreichsten der Welt, die Luxemburg einen festen Platz in der Geschichte der Fotografie einräumt. Die Neuerwerbungen wurden ausgewählt, um die bestehende Sammlung zu ergänzen und zu erweitern, und umfassen einen bedeutenden Ankauf.“
In dieser temporären Wechselausstellung am Fischmarkt, die offiziell bis zum 16. Juni läuft, stellen die beiden Kuratoren des Nationalmuseums, Lis Hausemer und Ruud Priem passend zur Neubespielung des Dauerausstellungssegments um die moderne und zeitgenössische Kunst ebenso diesen „neuen Blick“auf Steichen vor.
„Umfangreichste öffentliche Museumssammlung rund um Steichen weltweit“
Die Neuerwerbungen sind selbst unter Steichen-Kennern ein echter Schatz. Aus mehreren Gründen: Einerseits waren sie Teil privater Sammlungsbestände und so bisher nicht für die Öffentlichkeit zu sehen. Oder waren andererseits bisher komplett unbekannt. Nur dank einer Investition in Millionenhöhe konnten in den vergangenen Jahren Zug um Zug unter anderem diese Juwelen der Kunst vom Museum angekauft werden. „Die Sammlung von 178 Originalfotografien, die die Witwe Steichens 1985 dem Staat Luxemburg schenkte, und 44 Fotografien, die die Stadt Luxemburg dem Museum anvertraute, wurde in den letzten drei Jahren stark erweitert. Seit Herbst 2022 wurden nicht weniger als 42 Werke von Steichen und 49 Fotografien von ihm …“als Motiv – angefertigt von anderen Fotografen – „… erworben. Unsere Sammlung umfasst nun insgesamt 264 Abzüge von Steichen und ist damit die umfangreichste öffentliche Museumssammlung weltweit.“
Zu verdanken hat das das MNAHA laut eigenem Bekenntnis seinem Trüffelsucher Ruud Priem. Der wusste bei der Präsentation durchaus ins Rampenlicht zu stellen, wie er dank seiner Netzwerkarbeit solche Arbeiten für die öffentliche Sammlung sichern konnte. Das ist in Zeiten knapper Ankaufsbudgets schon eine Meisterleistung, nicht nur national, sondern auch international gesehen.
Das zeigt sich an zwei Beispielen: „In den frühen 1970er-Jahren war der New Yorker Fotograf, Kameramann und Dokumentarfilmer Robert Elfstrom ein Nachbar von Edward Steichen in Redding, Connecticut. Bei einem seiner Besuche, nicht lange vor Steichens Tod im Jahr 1973, machte Elfstrom 35 Aufnahmen von dem Fotografen in dessen Haus. Die Negative wurden aufbewahrt, aber nie entwickelt oder veröffentlicht. Im Januar 2024 erwarb das Museum die Originalnegative und das Copyright. Wir haben sie gedruckt und eine Auswahl davon ist hier zum ersten Mal zu sehen“, schreibt das MNAHA. Und genau das schafft einen ganz alltäglichen Blick auf den alten Steichen.
Ebenso ungewöhnlich: „Acht Abzüge von Bruce Davidson wurden in der Vogue von 1963 veröffentlicht. Die anderen Fotografien aus Davidsons Serie wurden entweder nicht entwickelt oder blieben weitgehend unveröffentlicht. Im Jahr 2023 entdeckte und erwarb das Museum sechs Originalabzüge und sechs Kontaktbögen mit 137 Rahmen von einem Händler für amerikanische Fotografie in Monterey, Kalifor
Die Neuerwerbungen sind selbst unter Steichen-Kennern ein echter Schatz.
nien. Darunter befindet sich ein Porträt von Steichen in seinem Wohnzimmer, neben einer imposanten Skulptur seines guten Freundes Constantin Brancusi (1876–1957). Ein anderer Farbabzug zeigt den älteren Steichen, der in einem rosa Anzug durch seinen Blumengarten spaziert.“Dieses Motiv ziert auch als Hauptaufmacher das Museumsmarketing.
Frauen, Kunst, Natur, Tiere und Gärten – alle diese Leidenschaften machen die neuen Bilder sehr viel plastischer
Frauen, Kunst, Natur, Tiere und Gärten – alle diese Leidenschaften machen die neuen Bilder sehr viel plastischer. Traurig dabei: Unter den Ankäufen ragen auch die einst privaten Schätze einer der Wegbereiterinnen für das Thema Fotografie in Luxemburg heraus – die Gründerin der Galerie Clairefontaine, Dr. Marita Ruiter. Deren Verkauf fiel sicher nicht leicht, handelt es sich doch um einzigartige Raritäten. „Der Erwerb umfasste einige wichtige Porträts, die in unserer Sammlung fehlten, aber auch die Anzahl der Aktstudien wurde mehr als verdoppelt. Zu der Luftaufnahme, die sich in unserem Besitz befand, kamen fünf weitere Werke (darunter einige Collagen), und zu den 14 bereits vorhandenen Farbfotografien kamen fünf hinzu, was sowohl die Qualität als auch die Vielfalt unserer Sammlung von Steichen-Abzügen deutlich erhöht hat“, schreibt das Museum.
In der Mischung hat dieses Portfolio zusammen mit den bisherigen Beständen das Potenzial, die Steichen-Erinnerung im Land auf ein neues Level zu heben. Wenn es bei den Planungen zum Steichen-Jahr 2029 bleibt, könnte das wirklich ein weltweites Ereignis werden – wenn sich alle SteichenExperten und -Sammler im Schulterschluss vereinen.