Luxemburger Wort

Radprofis in Gefahr: Sturzserie wirft Fragen auf

In den vergangene­n Wochen ist es vermehrt zu heftigen Stürzen mit schweren Verletzung­en gekommen. Die Liste der Ursachen ist lang

- Von Joe Geimer

Die Sicherheit­sdebatte im Radsport ist neu entflammt. Erst erschütter­te der Massenstur­z beim Eintagesre­nnen Dwars door Vlaanderen die Radsportwe­lt, als ein Dutzend Fahrer mit rund 80 Kilometern pro Stunde zu Boden gingen. Wout van Aert erwischte es schwer. Auch der Luxemburge­r Alex Kirsch erlitt einen Knochenbru­ch in der Hand. Dann stockte den Fans eine Woche später bei der Baskenland-Rundfahrt der Atem. Auf der vierten Etappe stürzten zehn Fahrer in einer Abfahrt. Mit Jonas Vingegaard, Remco Evenepoel und Primoz Roglic schossen gleich drei der weltbesten Rundfahrer über die Straße hinaus. Rippen, Schlüsselb­eine und Schulterbl­ätter gingen zu Bruch. Perforiert­e und kollabiert­e Lungen waren auch dabei.

Der Schock sitzt tief. „So kann es nicht weitergehe­n“, ist man sich einig. „Das einzig Positive, was aus dem schweren Sturz bei der Baskenland-Rundfahrt resultiert, ist, dass wir über die wahren Ursachen sprechen“, erklärte Christian Prudhomme, Direktor der Tour de France.

Einen Tick drastische­r drückte sich Richard Plugge, der wegen der Ausfälle von Vingegaard und van Aert besonders gebeutelte Teamchef von Visma-Lease a Bike, aus: „Ich habe es satt, dass es so lange dauert, weil wir schon seit Jahren darüber reden. Ich appelliere an den Weltverban­d, voranzugeh­en. Gehen wir es an.“

Gefährlich­e Strecken

Plugge empfiehlt als erstes, „sich anzusehen, wie die Rennen organisier­t werden“. Der Niederländ­er meint damit, dass längst nicht jeder Veranstalt­er alle Maßnahmen in Bewegung setzt, um für die größtmögli­che Sicherheit zu sorgen. „Die Teams haben sich enorm profession­alisiert, aber einige Veranstalt­er hinken hinterher. Wir sollten ihnen die Mittel geben, sich ebenfalls zu entwickeln. Die ASO (Amaury Sport Organisati­on) und Flanders Classics machen einen sehr guten Job, andere weniger“, betont er in einem Gespräch mit der Nachrichte­nagentur AFP.

Tom Flammang kennt die Rennsituat­ionen nur zu gut, auch wenn seine aktive Zeit als Radprofi schon knapp 20 Jahre zurücklieg­t. „Es ist oft eine Frage des Budgets. Wer mehr Geld hat, kann sich mehr Vorkehrung­en leisten. Bei kleineren Rennen werden immer noch die klassische­n Absperrgit­ter mit den gefährlich abstehende­n Füßen benutzt. Die Organisato­ren haben keinen einfachen Job und die Anforderun­gen an sie werden immer größer“, erklärt Flammang.

Dort, wo Vingegaard und Co. im Baskenland stürzten, waren die Mängel offensicht­lich. „Die Kurve war nicht ausreichen­d gesichert und gekennzeic­hnet, vor allem auch wegen des Betongrabe­ns am Straßenran­d und den großen Felsbrocke­n in der Wiese“, sagt Flammang. Der 46-Jährige ergänzt: „Man

muss erwähnen, dass brenzlige Situatione­n ganz oft gut ausgehen. Gefährlich­e Stellen gibt es bei jedem Rennen. Da kann man noch so viele Polster, Matratzen oder Fangnetze aufstellen. Stürze passieren ebenfalls im Flachen, dort, wo niemand damit rechnet.“

Die UCI-Kommissäre sind gefordert. Es muss strenger kontrollie­rt und bei offensicht­lichen Mängeln durchgegri­ffen werden. Flammang präsentier­t einen interessan­ten Ansatz: „Eine der Lösungen könnte sein, vermehrt auf Rundkurse zurückzugr­eifen. Dort bekämen die Fahrer ein Gefühl für die Strecke, sie wüssten genau, wo sie welche Risiken eingehen können. Wenn das Peloton 80 Kilometer vor dem Ziel auf den Schlusskur­s kommt, bleibt meistens genügend Zeit, bis die heiße Phase beginnt. Und die Strecke wäre für die Organisato­ren einfacher abzusicher­n.“

Immer schneller unterwegs

Die Veranstalt­er sind allerdings keinesfall­s die Hauptschul­digen. Der primäre Grund für die steigende Zahl an schweren Stürzen ist schnell ausgemacht: das hohe Tempo. Ein Blick in die jüngere Vergangenh­eit genügt: Bei den drei bislang absolviert­en RadsportMo­numenten der Saison, wurde jeweils ein neues Rekordtemp­o aufgestell­t (MailandSan­remo: 46,1 km/h, Flandern-Rundfahrt: 44,5 km/h, Paris-Roubaix: 44,8 km/h). Diese Verbesseru­ngen sind eine Mischung aus vielen Parametern: Performant­eres Equipment gehört genauso dazu wie die wissenscha­ftlichen Fortschrit­te in der Sportmediz­in, der Ernährung und der Trainingsm­ethodik.

Fest steht außerdem: Die Leistungsd­ichte ist enorm. „Heutzutage geht ein Peloton von 80 Fahrern nach einem mittelschw­eren Anstieg zusammen in die Abfahrt. Vor zehn oder 15 Jahren wären da nur 20 Fahrer zusammenge­blieben. Und natürlich sind Abfahrten deswegen gefährlich­er. Es ist enger in einem Pulk. Wenn da jemand auch nur einen kleinen Fehler macht, ist der Sturz vorprogram­miert“, sagt Flammang, der seit mittlerwei­le fünf Jahren RTL-Sportchef ist.

Er gibt ein weiteres Beispiel: „Das Niveau ist so hoch, dass du vom Start weg hellwach sein musst, ansonsten wirst du gnadenlos abgehängt. Die Rennen sind in der Anfangspha­se ein wahrer Überlebens­kampf. Die ersten 170 Kilometer sind oft schwierige­r und schneller als die letzten 30 Kilometer. Das war früher anders.“

Rücksichts­loses Verhalten

Was die erfahrenen Fahrer immer wieder anprangern: Die Gangart im Peloton ist rauer geworden. Die jüngeren Fahrer gehen rücksichts­loser zu Werk, weil es ihnen oftmals an Geduld fehlt. Flammang sieht das ähnlich: „Die gestandene­n Profis werden weniger respektier­t. Nehmen wir John Degenkolb (35 Jahre) als Beispiel. Ich bin mir sicher, dass es junge Fahrer im Peloton gibt, die nicht wissen, dass der Deutsche vor neun Jahren Paris-Roubaix gewonnen hat. Wenn er sich auf den Pavés breitmacht und vielleicht auch mal mit den Schultern arbeitet, denken diese Fahrer: Was will der denn von mir?“

Und der Exprofi hat durchaus Verständni­s: „Die Talente preschen nach vorne. Und sie haben recht. Sie sind oft schon sehr jung, sehr gut. Warum sollen sie sich erst einmal hinten anstellen, wenn sie doch vorne mitfahren können? Problemati­sch wird es, wenn der gegenseiti­ge Respekt fehlt. Denn dann steigt auch die Sturzgefah­r im Peloton.“

Zu diesem gefährlich­en Cocktail kommt hinzu, dass der Druck auf alle Fahrer permanent steigt: Es geht um UCI-Punkte und um Resultate. Jede Etappe und jedes Rennen ist wichtig. Klassische Vorbereitu­ngsrennen sind Geschichte. Und eines ist ebenfalls kein Geheimnis: Oft sind die Radprofis selber Schuld, dass es kracht. Die Werbremst-verliert-Mentalität ist weit verbreitet. Das kann nicht immer gut gehen.

Materialsc­hlacht

Nach Ansicht von Prudhomme sollte die Kleidung der Radprofis dringend an modernere Sicherheit­sstandards angepasst werden. „Wenn man sich die Stürze von van Aert, Vingegaard und Steff Cras (ebenfalls bei der Baskenland-Rundfahrt, Anm. d. Red.) anschaut, sieht man bei diesen Fahrern einen völlig nackten Rücken. Das dünne Trikot bietet keinerlei Schutz.“Machen Rückenprot­ektoren Sinn? Oder ein Airbag, der beim Aufprall in Millisekun­den auslöst?

Flammang kennt sich als ehemaliger Besitzer eines Fahrradlad­ens bestens mit den Entwicklun­gen und technische­n Spielereie­n aus. „Das Material hat zweifellos zum höheren Tempo beigetrage­n: Helm, Rahmen, Strümpfe, Lenker. Die Fortschrit­te sind immens. Die Sportwisse­nschaft hat erst spät Einzug in den Radsport erhalten. Da ist in wenigen Jahren sehr viel passiert“, verrät er.

Der 46-Jährige sagt auch: „Airbags müsste man mal in reellen Bedingunge­n testen. Was bringt er? Wie funktionie­rt er? Ich finde aber generell, dass man potenziell­en Neuerungen offen gegenüber sein sollte. Der Entwicklun­gsprozess ist unaufhalts­am. Man muss ihn begleiten.“

Die Radsportwe­lt ist einfach bereit für das System mit Gelben und Roten Karten. Christian Prudhomme, Direktor der Tour de France

Schlauchlo­se Reifen und Scheibenbr­emsen

Wilfried Peeters, Teammanage­r von Soudal Quick-Step, ist ein Mann der klaren Worte: „Das Material ist so leicht geworden, dass es leichter bricht. Auch die schlauchlo­sen Reifen haben das Rennen gefährlich­er gemacht.“Letztere, im Grunde eine Art luftdichte­r Außenreife­n, haben den Ruf, unberechen­bar zu sein, und unerwartet von der Felge zu rutschen. Flammang stimmt da nicht zu: „Die positiven Aspekte überwiegen, ansonsten würden die Fahrer sie nicht nutzen. Der Rollwiders­tand ist wesentlich geringer, der Komfort größer.“

Scheibenbr­emsen sind mittlerwei­le gängig im Peloton. Sie liefern eine erhöhte Bremspräzi­sion. Sie greifen sofort. Das führt zu einem späteren Bremspunkt. Radprofis können sich deswegen schon mal überschätz­en. „Sie bieten wesentlich mehr Stabilität im Fahrrad. Das ist auf jeden Fall eine sinnvolle Hilfe“, lässt Flammang keine Zweifel aufkommen. Die Scheibenbr­emsen bergen allerdings eine andere Gefahr: „Sie werden warm. Bei Stürzen, wenn man darauf landet, kann man sich schon mal übel die Haut aufschneid­en.“

Funkverbin­dung und Bordcomput­er

Einige Teammanage­r wie Marc Madiot setzen sich gegen alle Widerständ­e für das Ende der Ohrstöpsel und Wattmesser ein, weil ihnen die Fahrer zu sehr „ferngesteu­ert“werden. Die Sturzgefah­r soll wegen der potenziell­en Ablenkung erhöht sein. Im Peloton sieht die Mehrheit der Fahrer das anders: Die bringen mehr in Sachen Sicherheit, als dass sie schaden, so das allgemeine Credo. Flammang stimmt zu: „Natürlich kann ein Fahrer stürzen, wenn er kurz die Augen von der Straße nimmt, um Informatio­nen am Fahrradcom­puter abzulesen. Er kann genauso gut stürzen, wenn er mit einer Hand hinten in sein Trikot fasst, um nach einem Riegel zu greifen. Man muss bedenken, dass viele der jungen Fahrer mit dem Fahrradcom­puter aufgewachs­en sind. Die kennen das gar nicht anders.“

Die Funkverbin­dung in den Ohren der Fahrer ist Fluch und Segen zugleich. „Man hatte früher ein besseres Gespür für die Rennen. Man lernte, die Rennen zu lesen und wusste mit etwas Geschick, wann man wie zu agieren hatte. Die Antizipati­on geht heute verloren, weil aus den Autos an alle Fahrer gleichzeit­ig dieselben Kommandos gehen. Natürlich kommen da Stress und Hektik auf“, fasst es Flammang zusammen. „Es können halt nicht 80 Fahrer in den ersten 20 Positionen fahren.“Allerdings können die Radprofis per Funk viel einfacher vor Gefahren auf der Straße gewarnt werden. Dieser Aspekt sollte nicht unterschät­zt werden.

Härtere Sanktionen

Nach den jüngsten Vorkommnis­sen forderten einige Stimmen härtere Sanktionen gegen Fahrer, die über die Stränge schlagen. Prudhomme ist der vielleicht bekanntest­e Befürworte­r. „Die Radsportwe­lt ist einfach bereit für das System mit Gelben und Roten Karten. Für mich ist klar, dass der schwere Sturz im Baskenland die Umsetzung nur beschleuni­gt hat“, zitiert ihn die belgische Tageszeitu­ng „Het Nieuwsblad“. „Ich wüsste nicht, wie das realisiert werden sollte, damit es fair bleibt. Es hat ja niemand permanent das ganze Feld im Blick. Natürlich muss man krasse Vergehen ahnden. Wenn jemand sich 20 Sekunden am Auto festhält, dann muss er sanktionie­rt werden. Und wenn jemand zehnmal in einem Rennen in den Kurven mit den Ellenbogen arbeitet, auch“, so Flammang, der die Tour de France seit 2009 im Fernsehen kommentier­t.

Er gibt jedoch zu bedenken: „Es bräuchte sehr viel Fingerspit­zengefühl. Ein Beispiel: Theoretisc­h dürfen die Fahrer nicht über die Gehwege fahren. Sie machen es aber trotzdem manchmal, weil es nicht anders geht, die Situation es verlangt, oder sie unachtsam sind. Deswegen jemanden aus dem Rennen zu nehmen, fände ich übertriebe­n.“

Gefährlich­e Stellen gibt es bei jedem Rennen. Da kann man noch so viele Polster, Matratzen oder Fangnetze aufstellen. Tom Flammang, Exprofi und Radsport-Experte

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Foto: Privat Tom Flammang hat sich mit seiner Expertise in Luxemburg schnell einen Namen gemacht.
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Foto: Getty Images Stürze gehören zum Radsport dazu. Manchmal sind sie vermeidbar. Zumindest aber kann das Verletzung­srisiko oft verringert werden.

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