Warum Patienten als Simulanten abgestempelt werden
Personen mit einer somatischen Belastungsstörung haftet das Stigma der eingebildeten Krankheit an. Eine Studie soll Aufschluss zu den Symptomen geben
Die Forschungsgruppe „Brain-Body Interaction“der Universität Luxemburg führt derzeit eine Studie zur Körperwahrnehmung durch und sucht nach freiwilligen Teilnehmern – mit und ohne Schmerzsymptome. Denn es ist möglich, Symptome oder Schmerzen zu empfinden, für die es keinen medizinischen Grund gibt. „Das Gummihand-Experiment ist in diesem Zusammenhang sehr interessant“, sagt André Schulz, Professor für Psychologie in der Abteilung für Verhaltens- und Kognitionswissenschaften der Uni Luxemburg.
Bei diesem Experiment liegt eine lebensechte Gummihand vor dem Probanden auf dem Tisch. Die echte Hand ist außer Sicht. „Dann werden beide Hände gleichzeitig mit Pinseln berührt“, erklärt der Psychologe. Der Proband hat das Gefühl, als wäre die Gummihand ein Teil seines Körpers. Wird nun mit einem Hammer auf die falsche Hand geschlagen, spürt der Proband das in seiner richtigen Hand. Im Gehirn werden Regionen aktiviert, die normalerweise bei echten Schmerzen aktiv sind.
„Man denkt, eine Empfindung entsteht dadurch, dass, wenn man ein Körperteil berührt, das Signal ins Gehirn weitergeleitet wird und das dann die Wahrnehmung ist“, sagt Schulz, der die Forschungsgruppe „Brain-Body Interaction“leitet. Das sei aber nur die halbe Wahrheit: „Was man als Berührung wahrnimmt, ist immer eine Überlagerung der Erwartung und dem, was tatsächlich vorgefallen ist.“
Wenn die Sinne täuschen
Die Sinne könnten die Menschen demnach täuschen. Im Laufe der Jahre hätten sie gelernt, dass eine Berührung spürbar ist. Was das Auge sehe, glaube das Gehirn. „Und wenn ich erwarte, dass die Berührung schmerzhaft ist, dann interpretiert das Gehirn dies als schmerzhaft, auch wenn die Schmerzrezeptoren gar nicht in Aktion treten“, sagt André Schulz.
Ähnlich verhält es sich bei der somatischen Belastungsstörung. „Die Patienten leiden unter Symptomen, für die es keine medizinische Erklärung gibt“, sagt Ruta Müller, Doktorandin in der Forschungsgruppe. Die Beschwerden können vielfältig sein. „Meist sind es Schmerzsymptome“, erklärt sie. Aber es kann auch Herzrasen sein oder Kurzatmigkeit oder beides oder etwas ganz anderes.
Die Patienten gehen von Arzt zu Arzt in der Hoffnung, eine Ursache für ihre Beschwerden zu finden – doch diese finden keine. „Man weiß nicht genau, wie diese Symptome entstehen, aber sie sind da.“Bleiben die Symptome, kann es für die Patienten sehr unangenehm werden. „Die Aufmerksamkeit und die Empfindung werden stärker und die Symptome in der Folge auch“, beschreibt Müller.
Die Patienten mit einer somatischen Belastungsstörung leiden unter Symptomen, für die es keine medizinische Erklärung gibt. Ruta Müller
Frustration bei Patienten und Ärzten
Das führt zu Frustration auf beiden Seiten. Der Arzt ist frustriert, weil er nichts findet, der Patient, weil er keine Linderung erfährt. „Wenn die Symptome sehr ausgeprägt sind und den Patienten im Alltag stark beeinträchtigen, stellen die Psychologen oder die Ärzte die Diagnose somatische Belastungsstörung“, sagt Schulz.
„Die Symptome bei einer solchen Störung sind echt, das ist wichtig zu betonen“, sagt er. Solche Symptome ohne organischen Befund kämen relativ häufig vor, sie seien ein wichtiger Faktor für Frühverrentung und jede Art von Arbeitsunfähigkeit. „Nach Depressionen und Angststörungen sind somatische Belastungsstörungen die dritthäufigste psychische Erkrankung“, so Schulz. Es sei daher von großer Bedeutung, dass diese Erkrankung erkannt und gut behandelt werden könne.
„Für Patienten mit somatischen Beschwerden gibt es heute nur grobe Empfehlungen. Es ist schwierig, die Ursachen der Symptome zu behandeln, wenn wir die Mechanismen nicht verstehen“, sagt Ruta Müller. Sie will nun herausfinden, wie sie entstehen. „Denn nur wenn wir den genauen Mechanismus verstehen, können wir eine gezielte Therapie entwickeln“, sagt sie und betont, dass es sich bei ihrem Projekt um Grundlagenforschung handelt, auf deren Basis später eine Therapie entwickelt werden kann.
Früher habe man Patienten mit somatischen Belastungsstörungen „malades imaginaires“genannt. „Es wurde viel von Einbildung gesprochen. Dieses Stigma haftet der Krankheit immer noch an“, sagt André Schulz. Dabei sei es wichtig zu betonen, dass die Symptome „immer eine physiologische Entsprechung haben“– auch wenn es nicht die ist, die der Patient zunächst vermutet. „Bei Brustenge denkt man an ein kardiologisches Problem.“Doch wenn der Arzt nichts findet, kann das daran liegen, dass „die Kommunikation zwischen Körper und Gehirn gestört ist“, sagt Schulz und spricht von einer „dysfunktionalen Signalübertragung“.
Das Stigma des „malade imaginaire“
„Wir sehen eine veränderte Körperwahrnehmung, da stimmt etwas nicht, aber wie kommt das?“, fragt André Schulz. Dieses Geheimnis soll nun gelüftet werden. „Unser Projekt geht aktuell in die Endphase“, sagt
Ruta Müller. Jetzt suchen die Forscher nach Freiwilligen. „Wir wollen überprüfen, ob und wie sich Menschen mit und ohne Symptombelastung unterscheiden“, sagt sie und lädt Probanden aus beiden Gruppen in das Labor auf dem Campus Belval ein.
Die Teilnehmer können sich auf einiges gefasst machen – einen Hammerschlag auf die Hand brauchen sie aber nicht zu befürchten. „Auf jeden Fall können die Teilnehmer mit einer Art Wahrnehmungstraining rechnen, einige Personen werden auch einem Belastungstest unterzogen – auf moderatem Niveau“, verrät André Schulz. „Auch wenn sie keine individuelle Besserung erwarten können, leisten die Teilnehmer einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der somatischen Belastungsstörung“, sagt Müller.
„Sie erhalten bessere Einblicke, wie der eigene Körper funktioniert“, sagt sie. Sie lernen aber auch, „wie Forschung funktioniert“. Die Teilnehmer würden den Wissenschaftlern oftmals die Rückmeldung geben, „wie spannend es bei uns ist.“
Wir wollen überprüfen, ob und wie sich Menschen mit und ohne Symptombelastung unterscheiden. Ruta Müller