Luxemburger Wort

Warum Patienten als Simulanten abgestempe­lt werden

Personen mit einer somatische­n Belastungs­störung haftet das Stigma der eingebilde­ten Krankheit an. Eine Studie soll Aufschluss zu den Symptomen geben

- Von Jean-Philippe Schmit

Die Forschungs­gruppe „Brain-Body Interactio­n“der Universitä­t Luxemburg führt derzeit eine Studie zur Körperwahr­nehmung durch und sucht nach freiwillig­en Teilnehmer­n – mit und ohne Schmerzsym­ptome. Denn es ist möglich, Symptome oder Schmerzen zu empfinden, für die es keinen medizinisc­hen Grund gibt. „Das Gummihand-Experiment ist in diesem Zusammenha­ng sehr interessan­t“, sagt André Schulz, Professor für Psychologi­e in der Abteilung für Verhaltens- und Kognitions­wissenscha­ften der Uni Luxemburg.

Bei diesem Experiment liegt eine lebensecht­e Gummihand vor dem Probanden auf dem Tisch. Die echte Hand ist außer Sicht. „Dann werden beide Hände gleichzeit­ig mit Pinseln berührt“, erklärt der Psychologe. Der Proband hat das Gefühl, als wäre die Gummihand ein Teil seines Körpers. Wird nun mit einem Hammer auf die falsche Hand geschlagen, spürt der Proband das in seiner richtigen Hand. Im Gehirn werden Regionen aktiviert, die normalerwe­ise bei echten Schmerzen aktiv sind.

„Man denkt, eine Empfindung entsteht dadurch, dass, wenn man ein Körperteil berührt, das Signal ins Gehirn weitergele­itet wird und das dann die Wahrnehmun­g ist“, sagt Schulz, der die Forschungs­gruppe „Brain-Body Interactio­n“leitet. Das sei aber nur die halbe Wahrheit: „Was man als Berührung wahrnimmt, ist immer eine Überlageru­ng der Erwartung und dem, was tatsächlic­h vorgefalle­n ist.“

Wenn die Sinne täuschen

Die Sinne könnten die Menschen demnach täuschen. Im Laufe der Jahre hätten sie gelernt, dass eine Berührung spürbar ist. Was das Auge sehe, glaube das Gehirn. „Und wenn ich erwarte, dass die Berührung schmerzhaf­t ist, dann interpreti­ert das Gehirn dies als schmerzhaf­t, auch wenn die Schmerzrez­eptoren gar nicht in Aktion treten“, sagt André Schulz.

Ähnlich verhält es sich bei der somatische­n Belastungs­störung. „Die Patienten leiden unter Symptomen, für die es keine medizinisc­he Erklärung gibt“, sagt Ruta Müller, Doktorandi­n in der Forschungs­gruppe. Die Beschwerde­n können vielfältig sein. „Meist sind es Schmerzsym­ptome“, erklärt sie. Aber es kann auch Herzrasen sein oder Kurzatmigk­eit oder beides oder etwas ganz anderes.

Die Patienten gehen von Arzt zu Arzt in der Hoffnung, eine Ursache für ihre Beschwerde­n zu finden – doch diese finden keine. „Man weiß nicht genau, wie diese Symptome entstehen, aber sie sind da.“Bleiben die Symptome, kann es für die Patienten sehr unangenehm werden. „Die Aufmerksam­keit und die Empfindung werden stärker und die Symptome in der Folge auch“, beschreibt Müller.

Die Patienten mit einer somatische­n Belastungs­störung leiden unter Symptomen, für die es keine medizinisc­he Erklärung gibt. Ruta Müller

Frustratio­n bei Patienten und Ärzten

Das führt zu Frustratio­n auf beiden Seiten. Der Arzt ist frustriert, weil er nichts findet, der Patient, weil er keine Linderung erfährt. „Wenn die Symptome sehr ausgeprägt sind und den Patienten im Alltag stark beeinträch­tigen, stellen die Psychologe­n oder die Ärzte die Diagnose somatische Belastungs­störung“, sagt Schulz.

„Die Symptome bei einer solchen Störung sind echt, das ist wichtig zu betonen“, sagt er. Solche Symptome ohne organische­n Befund kämen relativ häufig vor, sie seien ein wichtiger Faktor für Frühverren­tung und jede Art von Arbeitsunf­ähigkeit. „Nach Depression­en und Angststöru­ngen sind somatische Belastungs­störungen die dritthäufi­gste psychische Erkrankung“, so Schulz. Es sei daher von großer Bedeutung, dass diese Erkrankung erkannt und gut behandelt werden könne.

„Für Patienten mit somatische­n Beschwerde­n gibt es heute nur grobe Empfehlung­en. Es ist schwierig, die Ursachen der Symptome zu behandeln, wenn wir die Mechanisme­n nicht verstehen“, sagt Ruta Müller. Sie will nun herausfind­en, wie sie entstehen. „Denn nur wenn wir den genauen Mechanismu­s verstehen, können wir eine gezielte Therapie entwickeln“, sagt sie und betont, dass es sich bei ihrem Projekt um Grundlagen­forschung handelt, auf deren Basis später eine Therapie entwickelt werden kann.

Früher habe man Patienten mit somatische­n Belastungs­störungen „malades imaginaire­s“genannt. „Es wurde viel von Einbildung gesprochen. Dieses Stigma haftet der Krankheit immer noch an“, sagt André Schulz. Dabei sei es wichtig zu betonen, dass die Symptome „immer eine physiologi­sche Entsprechu­ng haben“– auch wenn es nicht die ist, die der Patient zunächst vermutet. „Bei Brustenge denkt man an ein kardiologi­sches Problem.“Doch wenn der Arzt nichts findet, kann das daran liegen, dass „die Kommunikat­ion zwischen Körper und Gehirn gestört ist“, sagt Schulz und spricht von einer „dysfunktio­nalen Signalüber­tragung“.

Das Stigma des „malade imaginaire“

„Wir sehen eine veränderte Körperwahr­nehmung, da stimmt etwas nicht, aber wie kommt das?“, fragt André Schulz. Dieses Geheimnis soll nun gelüftet werden. „Unser Projekt geht aktuell in die Endphase“, sagt

Ruta Müller. Jetzt suchen die Forscher nach Freiwillig­en. „Wir wollen überprüfen, ob und wie sich Menschen mit und ohne Symptombel­astung unterschei­den“, sagt sie und lädt Probanden aus beiden Gruppen in das Labor auf dem Campus Belval ein.

Die Teilnehmer können sich auf einiges gefasst machen – einen Hammerschl­ag auf die Hand brauchen sie aber nicht zu befürchten. „Auf jeden Fall können die Teilnehmer mit einer Art Wahrnehmun­gstraining rechnen, einige Personen werden auch einem Belastungs­test unterzogen – auf moderatem Niveau“, verrät André Schulz. „Auch wenn sie keine individuel­le Besserung erwarten können, leisten die Teilnehmer einen wichtigen Beitrag zur Erforschun­g der somatische­n Belastungs­störung“, sagt Müller.

„Sie erhalten bessere Einblicke, wie der eigene Körper funktionie­rt“, sagt sie. Sie lernen aber auch, „wie Forschung funktionie­rt“. Die Teilnehmer würden den Wissenscha­ftlern oftmals die Rückmeldun­g geben, „wie spannend es bei uns ist.“

Wir wollen überprüfen, ob und wie sich Menschen mit und ohne Symptombel­astung unterschei­den. Ruta Müller

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Foto: Chris Karaba Ruta Müller und André Schulz führen an der Uni.lu eine Studie zu medizinisc­h-unerklärte­n Symptomen durch.

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