Kant als Metaphysiker
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haben! Es entsteht von dieser Sinnwarte aus gesehen eine spannende Problemverschiebung. Nach dem Sinn der Metaphysik fragen, bedeutet nämlich letztlich, nicht mehr fragen, was in der Metaphysik zu tun sei, sondern, was man mit ihr will, welches ihr Zweck ist, kurz, zu was sie gut ist.
In einer kleinen Schrift aus dem Jahr 1786 mit dem programmatischen Titel „Was heißt: Sich im Denken orientieren?“spricht Kant von einem doppelten Bedürfnis der Vernunft, einem theoretischen und einem praktischen. Das theoretische Bedürfnis geht sehr wohl auf das Unbedingte: Wir können also metaphysische Fragen stellen, wenn es uns danach ist – Kant schreibt, „wenn wir urteilen wollen“Ein Wissen darüber bleibt indes versagt. Das hat die Anatomie des Erkenntnisvermögens unzweifelhaft ergeben. Aber das praktische Bedürfnis, so Kant, besteht darin, dass wir urteilen müssen. Was er damit sagen möchte, ist dies, dass wir unser Leben führen müssen und dass wir in diesem Führen nicht auskommen, ohne uns letzte Orientierungsfragen zu stellen und uns letzten Orientierungsfragen zu stellen. Die metaphysischen Entitäten sind aus dieser Perspektive zu verstehen, das heißt aber, mit Blick auf das, was wir letztlich aus Freiheit in unserem Leben und mit unserem Leben machen, welche Menschen wir sein wollen. Kant sagt in diesem Konstrukt von den Gegenständen der Metaphysik, es handle sich um Postulate. „Es ist ein Gott, es ist ein zukünftiges Leben“sind notwendig von der Vernunft geforderte Behauptungen, die aber nur in praktischer Beziehung eine Bedeutung haben. Wie soll man dies näherhin verstehen? Wird hier nicht das Verdikt der Kritik der reinen Vernunft ausgehebelt?
In der „Kritik der reinen Vernunft“führt Kant, im Zusammenhang der Diskussion dieser Frage – er nennt sie die Frage nach dem letzten Zweck des Gebrauchs der reinen Vernunft – eine Überlegung über verschiedene Formen des Fürwahrhaltens an: Meinen, Wissen, Glauben. Vom Meinen heißt es, es sei ein weder subjektiv noch objektiv gewisses Fürwahrhalten; beim Wissen ist es genau umgekehrt, sowohl subjektiv als auch objektiv gewiss. Die dritte Variante des Fürwahrhaltens ist das (!) Glauben: subjektiv gewisses, aber objektiv ungewisses Fürwahrhalten16. Subjektiv gewiss, das ist nicht so zu verstehen, als hinge es von der Laune beziehungsweise von individuellen oder auch kollektiv zufälligen Überzeugungen ab; subjektiv gewiss bedeutet, dass eine Überzeugung in einer Vernunftnotwendigkeit ihren Grund hat. Objektiv ungewiss bedeutet, dass es von dieser Überzeugung kein in einer möglichen Erfahrung verifizierbares Ereignis gibt, also keine „Instanziierung“und demnach keine objektive Erkenntnis. Das lehrt, wie bereits gesehen, die Analyse des Erkenntnisvermögens: Wir können, als die endlichen Wesen, die wir sind, nicht wissen, ob es einen Gott gibt, ob es ein zukünftiges Leben gibt.
Es ist nun aber diese Modalität des Glaubens, die in der Frage nach dem Sinn der Metaphysik ihre Anwendung findet. Metaphysik unter dem Gesichtspunkt der Führung des Lebens, also Metaphysik als praktische unter dem Aspekt letzter Orientierungsinstanzen treiben, heißt: so leben als ob es derartige Instanzen gäbe. Unsere Vernunft postuliert sie. Darin scheint ein fiktionaler Aspekt zu liegen. Ist Metaphysik eine Fiktion? Sie ist ein Vernunftprojekt und in dieser Hinsicht ein Diskurs „in der Idee“– Kant spricht von den metaphysischen Entitäten als „in praktischer Absicht selbstgemachten Ideen“aber gerade als solche sind sie ins Leben zu überführen – eben keine Fiktionen! weil das sich Orientieren an derartigen „letzten Gedanken“(Dieter Henrich) dem Leben einen unbedingten Ernst verleiht, weil es zugleich eine unbedingte sittliche Forderung mit sich führt.
Metaphysik in der weitesten Bedeutung?
In einer späten Schrift schreibt Kant, eine derartige Metaphysik sei „kat‘anthrôpon“, „gültig für Menschen als vernünftige Wesen, und nicht bloß für dieses oder jenes Menschen zufällig angenommene Denkungsart“. Diese so verstandene Metaphysik ist dann etwas, das Kant –als Weisheitlehre bezeichnet, von der es heißt, sie habe einen unbedingten Wert19, weil sie sich auf den Endzweck des menschlichen Daseins bezieht, nämlich auf die Frage nach seiner „Weltstellung“(Georg Simmel), als transzendentes Wesen in der Immanenz und damit nach seiner Bestimmung in der Welt. Bis zu diesem Punkt reicht Metaphysik; darin liegt gleichzeitig ihre weiteste Bedeutung.
Robert Theis ist emer. Professor für Philosophie an der Université du Luxembourg. Von ihm erscheint in Kürze ein Buch mit dem Titel „Kants 4. Frage: Was ist der Mensch?“(Springer, Wiesbaden)
Brief von Kant an François Théodore de la Garde vom 24. November 1794, Ak.ausg., Band 11, S. 531
Siehe „Träume eines Geistersehers…“, in: Ak. ausg.,
Band 2, S. 367.
Siehe „Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte“(1747), Ak.ausg., Band 1, § 19, S. 30. „Träume“, Ak. ausg. Band 2, S. 368.
Siehe „Kritik der reinen Vernunft“, Vorrede B XXII
(B = 2. Auflage 1787).
Brief (nach dem 11. Mai 1781) an Marcus Herz anlässlich der Übersendung der „Kritik“, Ak.ausg. Band 10, S. 269. „Lose Blätter zu den Fortschritten der Metaphysik“,
Ak. ausg. Band 20, S. 345.
„Kritik der reinen Vernunft“, Vorrede A XII
(A = 1. Auflage)
„Kritik der reinen Vernunft“B 29.
„Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik“,
Ak. ausg,. Band 20, S. 293.
München 2023, S. 271.
„Kritik der reinen Vernunft“B 825.
„Kritik der reinen Vernunft“, B 827.
Ebd. B 828.
„Was heißt: Sich im Denken orientieren?“, Ak. ausg.
Band 8, S. 139.
Siehe „Kritik der reinen Vernunft“, B 850.
„Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik“, Ak.ausg., Band 20, S. 310.
Ebd., Ak.ausg., Band 20, S. 305.
„Vorrede zu Reinhold Bernhard Jachmanns Prüfung der Kantischen Religionsphilosophie“, Ak.ausg., Band 8, S. 441.