Die spannende Geschichte der Kamele, Dromedare, Trampeltiere, Lamas und Alpakas
Das Wiener Weltmuseum erzählt von alten Gefährten des Menschen
Wer an Kamele denkt, hat meistens das Bild von schwer beladenen Lasttieren, die in einer Karawane als „Schiffe der Wüste“durch sandige Landschaften Nordafrikas oder Vorderasiens ziehen, vor sich. Die Geschichte der heute weit verbreiteten Familie dieser Paarhufer hat aber in einer ganz anderen Region begonnen – in Nordamerika. Dass die Vereinten Nationen (UN) auf Initiative Boliviens das Jahr 2024 zum Internationalen Jahr der Kameliden erklärt haben, nahm das Wiener Weltmuseum zum Anlass, diese Geschichte in einer Ausstellung zu erzählen. Der UN-Generalversammlung ist es ein Anliegen, mit Hilfe dieser Tiere extreme Armut und Hunger zu verringern, die Ökosysteme der Welt zu schützen und das Einkommen von Frauen – sie sind oft die Halterinnen von Alpakas in Südamerika – zu stärken.
„Die wenigsten Menschen wissen, dass die ältesten Vorfahren der Kamele die Größe von Kaninchen hatten und vor 45 Millionen Jahren in Nordamerika lebten“, erklärt die OstasienExpertin Bettina Zorn, die mit Gerard van Bussel, Irina Eder und Tobias Mörike das kuratorische Team der aktuellen Schau bildet. Durch ihre Gestaltung will die Ausstellung nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder ansprechen, die zum Beispiel hautnah in Erfahrung bringen dürfen, wie Kamele duften und sich anfühlen.
Über die Bering-Straße nach Asien
Die nördlichste Art der frühen Kameliden bevölkerte vor etwa 3,5 Millionen Jahren die Nadelwälder und die Tundra Kanadas. Über Landbrücken – damals bestand auch noch dort, wo heute die Beringstraße ist, eine Verbindung von Alaska nach Asien – gelangten vor etwa 6 Millionen Jahren Urkamele nach Westen und vor etwa 3 Millionen Jahren nach Süden und passten sich den jeweiligen klimatischen Bedingungen an. In Nordamerika starben die Kamele vor ungefähr 12.000 Jahren aus.
In Asien und Afrika fanden die Kamele heiße Sandwüsten und Trockengebiete vor. Hier entwickelten sich das arabische und das baktrische Kamel beziehungsweise das einhöckrige Dromedar, das von Westafrika bis Westindien verbreitet ist, und das zweihöckrige Trampeltier, das man von der Türkei bis in die Mongolei findet. Die Domestizierung dieser Großkamele begann vor etwa 5.500 Jahren. Eine dritte Art von Großkamelen, eine Wildform, lebt bis heute in der Mongolei und in China.
Ihre südamerikanischen Verwandten, die Kleinkamele, entwickelten sich in anderen Lebensräumen, im Hochgebirge bis zu 4.500 Metern Seehöhe, im Grasland und in Waldgebieten. In den Anden von Ecuador, Peru, Bolivien und Chile begegnet man den domestizierten Lamas und Alpakas sowie deren Wildformen Vikunja und Guanako.
Historische und zeitgenössische Kunstwerke, Filme, Fotografien sowie zahlreiche Objekte aus den Sammlungen des Weltmuseums und von Leihgebern lassen in dieser Schau ein umfassendes und vielfältiges Bild der Kamele und ihrer Beziehung zum Menschen erstehen. Die Exponate stammen aus aller Welt – mag es eine südamerikanische Lamafigur aus Brotteig, eine kunstvolle Rückendecke für ein Kamel aus Turkmenistan, eine Teekanne in Kamelform aus Japan oder indische Miniaturmalerei sein. Das Plakat und den Katalog der Ausstellung ziert ein Foto mit dem Titel „Super Taus and a Camel Yasha“von 2017, das die russische Künstlerin Taus Makhacheva auf einem Kamel stehend zeigt.
Als universelle Nutztiere sind Kameliden seit Jahrtausenden Gefährten des Menschen. Sie liefern Milch, Wolle, Leder, Fleisch, Dünger und Brennstoff, können aber auch als Reit-, Lastund Zugtier verwendet werden. Je nach Kultur werden sie unterschiedlich eingesetzt. In den Anden werden Lamas vor allem als Tragtiere eingesetzt. In der Sahara züchtet man Dromedare besonders als Reittiere, die dortigen Bewohner würden sie nur in einer Notlage schlachten. Dagegen schätzt man in Somalia an Dromedaren vor allem ihre Milch und ihr
Fleisch. Unbestreitbar werden Kamele auch als Arbeitstiere ausgebeutet. Der in seiner Heimat verfolgte und zensierte sudanesische Filmemacher Ibrahim Shaddad lässt in seinem Kurzfilm „Jamal (A Camel)“ein Kamel, das eine quietschende Sesammühle antreibt, in einer Arbeitspause von der Freiheit träumen.
Auf der anderen Seite erfahren diese Tiere und die von ihnen gewonnenen Produkte auch große Wertschätzung. In vielen Ländern spielen mit Kamelen verbundene Rituale – Feste, Wettbewerbe, Rennen – eine wichtige Rolle und zählen zum von der UNESCO registrierten immateriellen Kulturerbe der Menschheit. Die Tiere werden dabei häufig besonders geschmückt, um ihre Schönheit zur Geltung zu bringen. Auf lange Traditionen können zum Beispiel das „Bikaner Festival“in Rajasthan in Indien, „Tinka de Alpaka“in den Anden oder bestimmte Kamelrennen in Arabien zurückblicken, wie die Ausstellung in Bildern und Videos darstellt.
Kamele trugen auch entscheidend zur wirtschaftlichen Entwicklung und militärischen Expansion großer Reiche und Kulturen bei. Die Ausstellung hebt dabei die Römer, die Inka, die Osmanen und chinesische Dynastien hervor. Die Römer drangen auf Kamelen nach Nordafrika und Westeuropa vor und setzten die Tiere im Handel ein. In Peru gingen die Inka als
„Volk der Lamas“in die Geschichte ein, da sie mit Lamakarawanen ihr Reich organisierten.
Kamelskelett aus der Zeit der Türkenbelagerung Wiens
Zwei Highlights der Ausstellung beziehen sich auf die Osmanen und China. Mit Hilfe großer und kräftiger Tulu-Kamele – einer Kreuzung von Dromedar und Trampeltier – unternahmen die Osmanen ihre Kriegszüge, die sie zweimal bis vor die Tore Wiens führten. Die Schau präsentiert ein vollständiges Kamelskelett, das aus der Zeit der zweiten Türkenbelagerung von 1683 stammt und erst im Jahr 2015 in Tulln bei Wien gefunden wurde. Die große Bedeutung von Kamelen bei chinesischen Feldzügen in der Qing-Dynastie geht aus einer Serie großformatiger Kupferstiche aus dem 18. Jahrhundert eindrucksvoll hervor.
Mit dem europäischen Kolonialismus gingen große Veränderungen für die Kameliden einher. Im 16. Jahrhundert transportierten die spanischen Eroberer Kühe und Schafe nach Südamerika und verdrängten damit die dort heimischen Lamas und Alpakas. Um Weideflächen zu gewinnen, wurden die wilden Guanakos rücksichtslos gejagt, so dass deren Bestand nach heutigen Schätzungen von ungefähr 50 Millionen auf 600.000 Tiere zurückging.
Europäische Kolonialisten setzten Kameliden immer wieder militärisch ein, auch noch bei Truppentransporten im Zweiten Weltkrieg. Eine Reiterstatue von Napoleon Bonaparte auf einem Dromedar erinnert daran, dass der spätere Kaiser von Frankreich um 1800 auf seinem Ägyptenfeldzug die auf Pferden reitenden Beduinen mit Hilfe von Dromedaren verfolgte. Später wurden Kamele auch in ihnen bis dahin unbekannte Regionen exportiert, um zum Beispiel für die deutsche Kolonialarmee im heutigen Namibia eingesetzt zu werden oder den Eisenbahnbau in Australien zu unterstützen. Heute gibt es etwa eine Million verwilderter Kamele in Australien, die das dortige Ökosystem gefährden.
Das Tier inspirierte den Orientalismus
Ein Abschnitt der Ausstellung bezieht sich auf „Sehnsuchtsorte“, die mit den Kameliden verbunden sind. Das Oeuvre des Wiener „OrientMalers“Leopold Carl Müller geht auf diese Faszination für das Fremde ein. Das Kamel als Symboltier für Steppen und Wüsten ließ viele Europäer von Abenteuern im Orient träumen. Dort sind Kamelritte heute feste Bestandteile der Tourismus-Programme. Ab den 1940er Jahren wurden auch entlegene Gebiete wie die Wüste Gobi mit ihren Kamelkarawanen zu Sehnsuchtsorten, wofür Künstler wie der Chinese Wu Zuoren (1908-1997) mit von der Natur inspirierten Werken sorgten.
Der letzte große Saal der Schau ist der Zukunft der Kameliden gewidmet, deren Rolle sich im 20. Jahrhundert durch die Industrialisierung geändert hat. Zunehmend werden sie durch Maschinen ersetzt. Landnahme und die Vertreibung von Nomaden, austrocknende Weidegründe und Wasserquellen sorgen für Probleme. In Südamerika bedrohen stark fallende Preise für Alpakawolle die Existenz der Herdenhalter. Deren Not thematisiert der Fotograf Alessandro Cinque, der in Peru und den USA wohnt und den Versuch dokumentiert, durch die Kreuzung von Alpakas mit wildlebenden Vikunjas ökonomisch profitablere Tiere zu züchten.
Mit Blick auf den Klimawandel, die Medizin, die Ernährung und die Textilindustrie werden Kamele und ihre Verwandten auch als
Hoffnungsträger der Zukunft betrachtet. Sie ermöglichen eine nachhaltigere Produktion von Milch, Fleisch und Wolle als dies Schafe oder Kühe tun können. Inzwischen entstanden zum Beispiel im französischen Maubeuge, wie der Fotograf Jean Francois Lagrot festhält, Kamelfarmen anstelle von Rinderhöfen. Die Biotechnologie erhofft von Studien über das einmalige Immunsystem der Kameliden unter anderem Lösungen in der Immuntherapie gegen Krebs.
Kuratorin Bettina Zorn verweist noch auf ein besonders Beispiel über die Beziehung von Kamelen und Menschen. In der Mongolei verweigerte eine Kamelstute nach einer schweren Geburt ihrem Kalb die Milch. Die Bemühungen der Kamelhalterfamilie, die Mutter zur Annahme ihres Kindes zu bringen, waren wochenlang erfolglos. An dieser Notlage nahmen immer mehr Menschen aus der Nachbarschaft Anteil, bis sich eine Lösung fand. Ein Musiker, der das mongolische Überredungsritual „Hoos“beherrschte, stellte mit Gesang und Instrumentalmusik die Harmonie zwischen der Kamelmutter und ihrem Kalb her. Wer diese berührende Geschichte nachempfinden will, sollte sich den vielfach prämierten Film „Die Geschichte vom weinenden Kamel“anschauen.
Seit diesem Donnerstag besitzt die Ausstellung bis zum 13. Oktober 2024 eine interessante Ergänzung im nahe dem Museum gelegenen Theseustempel im Wiener Volksgarten. Dort beleuchtet die in Dubai lebende Künstlerin Zeinab Alhashemi die Bedeutung von Kamelen für die Kultur und das Leben auf der Arabischen Halbinsel.
Auf dem Rücken der Kamele, Weltmuseum Wien, Neue Hofburg, Heldenplatz, 1010 Wien.
Bis 26. Januar 2025. www.weltmuseumwien.at