Die Türkei macht Bürger zu Putschisten
Hunderttausenden wurde nach dem Putschversuch 2016 der Prozess gemacht. Auch acht Jahre später steigt die Zahl der Verdächtigen noch immer
Die Fahnder kamen am frühen Morgen. In mehreren westtürkischen Provinzen nahm die Polizei bei Razzien in dieser Woche 36 Personen fest, die wegen „terroristischer Aktivitäten“gesucht wurden. Die Staatsanwaltschaft wirft den Beschuldigten Verbindungen zur Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen vor.
Die Regierung sieht in Gülen den Hintermann des Putschversuchs vom 15. Juli 2016. Seine Organisation gilt unter dem Kürzel „Fetö“als Terrororganisation.
Erst Ende März hatte die Polizei 70 Menschen wegen angeblicher Gülen-Verbindungen verhaftet. Sie sollen versucht haben, „den Polizeiapparat zu infiltrieren“, teilte Innenminister Ali Yerlikaya mit. Man sei ihnen auf die Spur gekommen, weil sie von öffentlichen Telefonen aus mit anderen Gülen-Anhängern gesprochen hätten.
Der heute fast 83-jährige Gülen bestreitet jede Beteiligung an dem Putschversuch. Er hatte in den 1970er-Jahren mit dem
Aufbau seiner Bewegung begonnen. Sie gab sich als religiös gemäßigte, bildungsbewusste Wohltätigkeitsorganisation. Kritiker, wie der türkische Investigativ-Journalist und Gülen-Kenner Ahmet Sik, verwiesen aber schon früh auf die konspirativen Organisationsstrukturen der Bewegung, deren eigentliches Ziel es gewesen sei, den Staat zu unterwandern.
1999 ging Gülen ins selbst gewählte Exil in die USA, um einem Prozess wegen islamistischer Umtriebe zuvorzukommen. Aus Pennsylvania steuert er ein weltweites Netzwerk von Bildungseinrichtungen, Stiftungen und Medien.
Massive Säuberungen nach Putschversuch
Gülen und Erdogan waren einst enge Verbündete. Nach dem Wahlsieg Erdogans 2002 arbeiteten beide daran, die kemalistische Elite aus den staatlichen Institutionen und dem Militär zurückzudrängen, um Schlüsselstellungen mit strenggläubigen Muslimen zu besetzen. So bekam Gülen immer mehr Einfluss – und wurde Erdogan schließlich zu mächtig.
2013 kam es zum Bruch. Erdogan ließ zahlreiche Bildungseinrichtungen der Gülen-Bewegung schließen. Aus den einstigen Kompagnons wurden Erzfeinde. Als sechs Monate später schwerwiegende Korruptionsvorwürfe gegen die Regierung hochkamen, sah Erdogan in Gülen den Drahtzieher der Anschuldigungen. Mit dem Putschversuch zweieinhalb Jahre später war der Bruch endgültig.
Erdogan reagierte auf die Meuterei mit umfangreichen „Säuberungen“. Über 130.000 Staatsbeamte wurde entlassen, Zehntausende Polizisten, Soldaten und
Richter verhaftet. Die „New York Times“schrieb damals, Erdogan werde „rachsüchtiger und kontrollbesessener als je zuvor“.
Er nutze den Putschversuch „nicht nur dazu, meuternde Soldaten zu bestrafen, sondern auch, um jeden Dissens, der in der Türkei noch vorhanden ist, zu unterdrücken“. Tatsächlich bezeichnete Erdogan selbst den Putschversuch als „Geschenk Allahs“. Das löste Spekulationen aus, ob es sich bei dem Coup womöglich um eine Inszenierung handelte.
Der versuchte Staatsstreich liegt nun schon fast acht Jahre zurück, aber immer noch geht die Jagd auf angebliche Putschisten unvermindert weiter. Innenminister Yerlikaya berichtete Ende Februar stolz, seit seinem Amtsantritt acht Monate zuvor seien bei Razzien gegen mutmaßliche Fetö-Mitglieder 6.045 Personen festgenommen worden. Die Zahl steigt von Woche zu Woche.
Ein Konto reicht aus
Dass die Fahnder immer noch neue Verdächtige zu identifizieren glauben, hängt mit der schieren Zahl der Verfahren zusammen. Allein zwischen 2016 und 2020 wurden nach Angaben des Justizministeriums gegen rund 600.000 Menschen Ermittlungsverfahren eingeleitet. 265.000 Menschen wurden im Zusammenhang mit dem Putschversuch verurteilt. Aber Zehntausende Verfahren sind immer noch anhängig.
Und es werden ständig mehr, denn die Fahnder ersinnen immer neue Methoden. Beispiel: Die Telefon-Fahndung, die im März zur Verhaftung von 70 Menschen führte. Dabei analysieren die Ermittler Verbindungsdaten öffentlicher Telefone. Wenn von dort eine Nummer gewählt wird, deren Inhaber als „Gülenist“gilt, werden auch die unmittelbar vorangegangenen und folgenden Anrufe ausgewertet.
Die Fahnder unterstellen, dass ein Gülen-Verschwörer von einem öffentlichen Telefon aus stets mehrere Komplizen nacheinander anruft. Dass dabei schnell Unbescholtene in Verdacht geraten, liegt auf der Hand.
Ohnehin spielen Mutmaßungen und Willkür bei der Fahndung nach vermeintlichen Gülen-Verschwörern eine große Rolle. Als Fetö-Terrorist gilt, wer seine Kinder auf eine der Gülen-Bewegung zugerechnete Privatschule schickte, ein Konto bei der mit Gülen in Verbindung gebrachten Bank Asya unterhielt, oder die App ByLock auf seinem Smartphone installiert hatte.
Die ab 2014 über Google Play und den App Store angebotene Anwendung ermöglicht es anonymen Benutzern, verschlüsselte Nachrichten zu senden. Anhänger der Gülen-Bewegung sollen die App genutzt haben, um sich zu kontaktieren. Im Umkehrschluss verdächtigen die Strafverfolger jetzt pauschal alle ByLock-Nutzer, Gülen-Anhänger zu sein.
Die Türkei bemüht sich seit 2016 in den USA um Gülens Auslieferung, allerdings bisher vergeblich. Die vorgelegten Indizien reichen den US-Behörden nicht aus. Vielleicht ist der Wunsch, ihn in die Türkei zurückzuholen, auch gar nicht so groß. Denn wenn man Gülen dort vor Gericht stellt, könnte er Geschichten aus der gemeinsamen Vergangenheit erzählen, an die Erdogan nicht gern erinnert wird.
Allein zwischen 2016 und 2020 wurden nach Angaben des Justizministeriums gegen rund 600.000 Menschen Ermittlungsverfahren eingeleitet.