Vom Fortschrittsbringer zum rußenden Relikt
Jubelnde Menschenmassen begrüßten die Schmalspurbahn Charly vor 120 Jahren. Ein halbes Jahrhundert später verschwand sie sang- und klanglos
Eine riesige Menschenmasse jubelte auf dem Pont Adolphe, um das neue Verkehrsmittel zu begrüßen. Nach schwierigen Planungen und strapaziösen Bauarbeiten war es am 19. April 1904 so weit: Die Schmalspurbahn Charly trat ihre Jungfernfahrt von Luxemburg-Stadt nach Echternach an. Tausende Zuschauer wollten sich das Spektakel nicht entgehen lassen, bei dem fast die ganze Regierung und der Bischof zugegen waren. Nur der ranghöchste Gast fehlte auf der nach ihm benannten Brücke: Der greise Großherzog Adolphe war gerade im Krankenhaus.
Die Schmalspurbahn Charly war ein Marathonprojekt, mit dem sich vor 120 Jahren große Hoffnungen verbanden. Sie sollte den armen und völlig abgelegenen Osten Luxemburgs an das geschäftige Treiben der Hauptstadt anbinden. Die Geschichte der Schmalspurbahn Charly von Luxemburg nach Echternach beginnt mit dem komplizierten Bau, enthält zahlreiche schwere Unfälle und endet sang- und klanglos nach dem Krieg, als die pittoresken Dampfzüge wie aus der Zeit gefallen schienen.
Die „Millionenbahn“kommt
Ende des 19. Jahrhunderts war Luxemburg von der Eisenbahneuphorie ergriffen. Der Zug schien das einzig geeignete Mittel, das rückständige und verkehrsmäßig kaum erschlossene Land an die europäischen Zentren anzubinden. Für den Bau der „Vizinalbahn“genannten Nebenstrecke kam Druck hauptsächlich von den Unternehmen und Händlern aus Echternach. Die Abteistadt war zwar schon über die Sauertalbahn an das Schienennetz angebunden, doch um in die Hauptstadt zu reisen, mussten die Bewohner lange Fahrzeiten und Umstiege in Wasserbillig oder Ettelbrück in Kauf nehmen.
Für drei Millionen Franken ließ die Regierung die 45,7 Kilometer lange Strecke schließlich realisieren. Als Fürsprecher tat sich Charles Richard, Generaldirektor für öffentliche Bauten, hervor – ihm verdankt die Linie ihren späteren Spitznamen. Dass die Strecke letztlich zwölf Kilometer länger als die Straßenverbindung wurde, ist auf die schwierigen Höhenunterschiede im Müllerthal zurückzuführen – und darauf, dass die Regierung möglichst viele Dörfer anbinden wollte. So bekam etwa die Gemeinde Bech ganze vier Haltestellen, obwohl Rippig, Hemstal und Zittig alle weniger als 150 Einwohner hatten. Außerdem führte die Strecke vorbei an einem wunderschönen Bahnhof am hauptstädtischen Park und über Dommeldingen und Junglinster bis nach Echternach.
„Komplett abgeschieden von der Welt“
Für die ländlichen Regionen des Großherzogtums brachte die Ankunft der Eisenbahn ganz neue Möglichkeiten. Die Dorfbewohner, die sich bis dahin hauptsächlich mit kleinbäuerlicher Landwirtschaft selbst versorgt hatten, konnten sich plötzlich eine Arbeitsstelle in einer Fabrik oder einem Büro suchen.
„Die Dorfbevölkerung lebte damals komplett abgeschieden von der übrigen Welt“, erzählt Jean-Paul Meyer, Autor eines Buchs über die Schmalspurbahn Charly. „Kaum jemand konnte sich Reitpferde oder Kutschfahrten leisten. Mit der Zuganbindung änderte sich das. Die Leute konnten ihre landwirtschaftlichen Produkte über weitere Entfernungen verkaufen, vor allem ihr Vieh.“
Während des Betriebs kam es zu zahlreichen Unfällen mit der Schmalspurbahn – wohl auch weil die Gleise keinerlei Absperrung hatten. So fuhren die Züge beispielsweise auf dem hauptstädtischen Bahnhofsvorplatz oder auf dem Pont Adolphe nur wenige Zentimeter vom Trottoir entfernt. Schon gleich im ersten Betriebsjahr 1904 kam ein Schaffner ums Leben, als er im Becher Tunnel zwischen zwei Wagen vom Zug stürzte und überfahren wurde. Auch Zusammenstöße zwischen Charly und Tram waren keine Seltenheit.
Die Fahrgastzahlen gingen durch die Jahrzehnte hinweg in die Knie. Während in den Jahren nach der Eröffnung so viele Menschen mit dem Charly fahren wollten, dass die Sitzplätze nicht ausreichten, sanken sie in den 1930er und 1940er Jahren erheblich und der Staat musste das Angebot mit Zuschüssen aufrechterhalten. Nach dem Krieg war die Konkurrenz durch Autobusse so stark, dass die Schmalspurbahn zum Auslaufmodell wurde. Nur zwei Tage im Voraus kündigte die CFL an, dass der Betrieb am 13. Juni 1954 eingestellt werden müsse. Feierlichkeiten wie
bei der Einweihung gab es zum Abschied von den schnaufenden Lokomotiven nicht.
Nur noch wenige Spuren
Auf dem Dorf galt der Charly zuletzt als langsam und unzuverlässig, in der Stadt war er als Luftverpester verschrien, der die Hausfassaden immer wieder mit Ruß schwärzte. An diesem Image liegt es wohl, dass heute nur noch wenige Spuren auf die dampfende Schmalspurbahn hindeuten. Die Schienen sind schon seit Langem verschwunden, die Bahnstrecke ist einem Radweg gewichen. Reisende reagieren verblüfft, wenn sie in winzigen Dörfern wie Zittig, Hemstal oder Beidweiler noch die ehemaligen Bahnhofscafés entdecken. Verschwunden sind fast alle Bahnhöfe, auch die prächtigen wie Luxemburg-Park mit seinem imposanten Runddach oder Dommeldingen und Echternach, die zwei größten Charly-Bahnhöfe.
Einige Bahnhofsgaststätten haben sich erhalten, wie etwa in Hemstal – doch es sind meist nur alte Gebäude ohne Cafébetrieb. Lediglich in Hostert und
Bech stehen die Bahnstationen noch und bezeugen, welche Mühe sich die Erbauer mit der Gestaltung damals gegeben haben: Die Stationen sind alle im gleichen Baustil aus rotem Backstein und mit auffälligen Holzverzierungen erbaut und sollten an Schweizer Chalets erinnern.
Abgerissen wurden sieben von neun Bahnhöfen wohl auch, weil es wenig Ideen für eine sinnvolle Nutzung gab. Die nach heutigem Maßstab winzigen Gebäude verfügten nur über einen Wartesaal und ein kleines Büro. In Bech ist immerhin wieder Leben in den denkmalgeschützten Bahnhof eingekehrt: Eine Mikrobrauerei braut dort ihr Bier.
Weiterführende Literatur: Jean-Paul Meyer: Charly – Schmalspurbahn Luxemburg-Echternach; Gérard Klopp Editeur. Luxemburg, Mondorf 2018. 356 Seiten, 58 Euro.
Weil die Regierung viele Dörfer anbinden wollte, machte der Zug alle paar Kilometer Halt. Nur durch den Grünewald fuhr er 20 Minuten ohne Pause.