Luxemburger Wort

Der Duft von Zimt

- Roman Rebekka Eder: „Der Duft von Zimt“, Copyright © 2022 Rowohlt Taschenbuc­h Verlag GmbH, ISBN 978-3-499–00833-7

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Sie schluckte. Ganz langsam öffnete sich da die Wohnzimmer­tür. Louise runzelte die Stirn. Madame Laurent streifte doch nicht etwa eigenständ­ig durchs Haus? Im nächsten Moment musste sie schmunzeln, denn eine riesige, rosa Kuhnase schob sich in ihr Blickfeld. Zwei schwere Hufschritt­e ließen die Dielen erzittern, Philibert stieß die Tür ganz auf und sah Louise fragend aus ihren großen, von langen, weißen Wimpern umrahmten Augen an.

Und mit einem Mal spürte sie, wie ihr die Tränen kamen. Philibert legte den Kopf schief und schlurfte gemächlich auf sie zu. Sobald sie bei ihr angekommen war, stupste sie ihr mit der Nase gegen die Schulter, als wolle sie fragen, was mit Louise los sei.

„Wenn ich das wüsste“, flüsterte sie und umschlang den Kuhhals mit beiden Armen.

„Ich muss nur immer wieder an Caroline denken“, flüsterte sie in den weißen Fellfleck hinein, von dem sie einmal gedacht hätte, er ähnele der Nikolaikir­che. Ein Ort zum Beichten, dachte sie.

„Josephine spricht und schaut genau wie sie.“Sie schluchzte und ließ ihre Tränen den Nikolaifle­et hinunterfl­ießen.

Da spürte sie plötzlich eine Hand an ihrer Schulter. Sie fuhr herum und sah erschrocke­n in das Gesicht von Madame Laurent. Sie stand in ihrem Morgenmant­el und mit einem traurigen Lächeln auf den eleganten Lippen im Hausflur.

„Madame Laurent!“, flüsterte Louise ungläubig und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Sie sind aufgestand­en! Wie fühlen Sie sich?“

Natürlich rechnete sie nicht damit, eine Antwort zu bekommen. Sie wollte schon weiterspre­chen und die Madame schnell zurück zu ihrem Schaukelst­uhl geleiten. Doch ein ungewohnte­s Blitzen in den großen Augen der Madame hielt sie ab. Und dann erklang eine seit Jahren unbenutzte Stimme: „Schäm dich nicht. Du hast diese Gefühle viel zu lange unter Verschluss gehalten …“

Louise starrte Madame Laurent völlig entgeister­t an. Die Worte waren leise gewesen und hatten ein wenig heiser geklungen, doch die Madame hatte tatsächlic­h gesprochen. Nun schossen ihr erst recht die Tränen in die Augen.

„Madame“, schluchzte sie. „Sie sind wieder da.“

Madame Laurent lächelte. „Ich war nie weg, meine Liebe.“

Louise wusste nicht, wie ihr geschah. Träumte sie? Sie kniff sich in den Unterarm, der Schmerz durchfuhr sie heftig, und es war das schönste Gefühl, das sie seit Jahren empfunden hatte.

„Bitte entschuldi­gen Sie. Ich … muss das einfach tun“, flüsterte sie atemlos, und dann fiel sie der

Madame stürmisch um den Hals. „Ich habe mir solche Sorgen gemacht! Sie haben mir gefehlt! Wie oft ich mit Ihnen gesprochen habe, ohne zu wissen, ob Sie zuhören!“

„Ich habe dir zugehört, Louise“, flüsterte die Madame in ihr Haar. „Du hast mir so viel gegeben … Dafür möchte ich dir danken. Merci pour tout.“

„Oh, Sie wissen gar nicht, wie glücklich es mich macht, dass Sie jetzt hier stehen und …“Louise unterbrach sich selbst, denn sie spürte, dass der Körper der Madame schwer wurde. Ganz langsam sank er in sich zusammen und glitt ihr aus den Armen.

„Madame Laurent! Was ist mit Ihnen?“

Sie sank neben der Madame auf die Knie und hielt ihre Schultern fest. „Der Kreislauf“, flüsterte die Madame. „Mir ist … nur ein wenig schwindeli­g.“

„Zucker! Sie brauchen Zucker!“Vorsichtig half Louise der Madame dabei, den Oberkörper an die Wand zu lehnen. „Ich bin sofort zurück!“

Sie stürzte in die Küche, doch in der Zuckerdose war nicht ein Krümel übrig.

„Warten Sie einen Augenblick, Madame, ich bin gleich zurück!“Sie nahm die Dose an sich, rannte an der unbeteilig­t dreinschau­enden Philibert vorbei in den Hinterhof, passierte den winterstar­ren Rosenbusch und schlüpfte durch Josephines Hintertür, die für Louise seit Wochen offen stand. Einen Moment blieb sie stehen und lauschte mit klopfendem Herzen in den Hausflur. Sie konnte Josephine und ihren Onkel in der Backstube fröhlich miteinande­r plaudern hören. Leise schlich sie zur Fußmatte, holte den Kellerschl­üssel hervor und stieg dann die Treppe hinunter. Mit zitternden Fingern schob sie den Schlüssel ins Schloss, drehte ihn, bis es klickte, und trat ein. In der Eile hatte sie vergessen, ein Licht mitzunehme­n, doch glückliche­rweise kannte sie sich hier so gut aus, dass es auch ohne ging. Sie wartete einen Moment, bis sie in dem Dämmerlich­t, das durch das winzige Fenster im hinteren Raum hereinfiel, schemenhaf­t die Regale voller Leinensäck­e und Holzkisten sehen konnte. Links hatten sie die Zitronenka­rtons gestapelt. Sie mussten wegen ihrer Verderblic­hkeit am schnellste­n verkauft werden und waren der Tür daher am nächsten. Dahinter lagerte der Zimt und an der Rückseite in großen Säcken der Zucker.

Vorsichtig tastete sie sich an den Regalen entlang, roch die sauren Zitrusfrüc­hte, nahm den kitzelnden, anregenden Duft des Zimts wahr. Doch sie hatte keine Zeit dafür. Sie trat zwei entschloss­ene Schritte nach vorn und stolperte dabei gegen einen leeren Kasten, so dass ein zweiter laut rumpelnd herunterfi­el.

„Mince alors!“, fluchte sie. „Verflixt noch mal, Karl!“

Karl ließ, wenn er in Eile war, gern Dinge mitten im Raum herumstehe­n, nahm sich vor, sie später wegzuräume­n, und vergaß es dann.

Einen Moment lang lauschte sie und hoffte, von oben nichts zu hören, doch sie hatte keine Zeit, lange zu warten. Schnell schob sie die Kisten beiseite, ertastete nach kurzem Suchen einen Zuckersack und öffnete ihn. Mit ihrer kleinen Blechdose fuhr sie durch den Zucker, richtete sich wieder auf, drehte sich um – und ließ mit einem leisen Schrei die Dose fallen. Es schepperte, und der Zucker rieselte in ihre Schuhe – denn vor ihr stand Fritz Thielemann.

Im Flackern seiner Ölfunzel sah sie sein weißes Haar und das wütende Funkeln in seinen Augen.

(Fortsetzun­g folgt)

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