Luxemburger Wort

Die wichtigste­n Fragen zu den Europawahl­en

Vom 6. bis zum 9. Juni werden in den 27 Mitgliedst­aaten der Europäisch­en Union jene Abgeordnet­e gewählt, die die 720 Sitze des EU-Parlaments besetzen werden

- Von Diego Velazquez (Brüssel)

Am 9. Juni dürfen alle in Luxemburg ansässigen Unionsbürg­er ihre Stimme abgeben, um ein neues EU-Parlament zu wählen. 13 Parteien stellen in Luxemburg Kandidaten für diese Wahlen. Doch was steht am 9. Juni wirklich auf dem Spiel?

Was wird überhaupt bei den Europawahl­en gewählt?

Die Bezeichnun­gen Europawahl­en oder EU-Wahlen sind etwas irreführen­d. Klarer wäre, sie die Wahlen zum Europäisch­en Parlament zu nennen. Denn vom 6. bis zum 9. Juni werden in den 27 Mitgliedst­aaten der Europäisch­en Union jene Abgeordnet­e gewählt, die die 720 Sitze des EU-Parlaments füllen werden. Jedes Mitgliedsl­and stellt einen festen Anteil an Sitze. In Luxemburg gibt es sechs davon zu verteilen. Die EUWahlen sind weltweit einzigarti­g. Denn das EU-Parlament ist die einzige transnatio­nale Volksvertr­etung, die direkt gewählt wird.

Warum stellt Luxemburg dort nur sechs Abgeordnet­e?

Die Sitze in EU-Parlament werden grob nach Einwohnerz­ahl verteilt. Allerdings sichert das Prinzip der „degressive­n Proportion­alität“, dass kleine Mitgliedst­aaten dennoch ausreichen­d vertreten sind. In der Praxis bedeutet das, dass größere Mitgliedst­aaten mehr Sitze haben als kleinere, kleinere aber mehr Sitze pro Einwohner.

So hat Luxemburg jeweils einen Abgeordnet­en pro 130.000 Einwohner, während ein polnischer oder ein deutscher Parlamenta­rier grob gesehen um die 800.000 Menschen vertritt. Diese Ungleichhe­it der Stimmgewic­hte in den einzelnen Wahlkreise­n führt zu einem ständigen Herumfeile­n an der Sitzvertei­lung. Luxemburg ist demnach recht übervertre­ten.

Ich wähle ja nationale Politiker, die in nationalen Parteien sind. Aber im EU-Parlament gibt es europäisch­e Fraktionen. Wie funktionie­rt das?

Nationale Politiker aus nationalen Parteien werden ins EU-Parlament gewählt und tagen danach in der Regel in einer der dort bereits bestehende­n Fraktionen. Meist verläuft dieser Schritt intuitiv. Die CSVParlame­ntarier integriere­n sich in die christdemo­kratische Fraktion der Europäisch­en Volksparte­i (EVP), die LSAP-Gewählten tagen in der sozialdemo­kratischen Fraktion (S&D), die DP-Politiker gehen zur liberalen Renew-Fraktion und die Grünen zu den europäisch­en Grünen.

Die ADR hat bereits erklärt, sich – im Falle eines Sitzgewinn­s – der rechtskons­ervativen bis rechtsextr­emen EKR-Fraktion anzuschlie­ßen. Die Piraten würden, genau wie ihre Parteikoll­egen aus anderen EU-Ländern, die bereits im EU-Parlament sind, sich am liebsten der grünen Fraktion anschließe­n. Fokus, so Parteispre­cher Frank Engel, würde bei Renew anklopfen. Im EU-Parlament sitzen auch einige fraktionsl­ose Abgeordnet­e.

In der Chamber gibt es eine Regierungs­koalition. Ist das im EU-Parlament auch der Fall?

Formal gesehen nicht. Nach der EUWahl gibt es kein explizites Koalitions­abkommen zwischen unterschie­dlichen Fraktionen. Das EU-Parlament stützt auch keine Regierung – zumindest nicht direkt. Auch wenn das Verhältnis zwischen EU-Parlament und EU-Kommission ein wenig in diese Richtung geht. In der Praxis hat es aber durchaus schon Formen der Zusammenar­beit gegeben.

So haben die EU-Fraktionen der Mitte stets versucht, in großen Fragen zusammenzu­halten. Ob das nach den Wahlen im Juni noch möglich sein wird, ist eine der großen Fragen dieser Kampagne. So schließt die EVP, der auch die CSV angehört, eine Zusammenar­beit mit der rechtskons­ervativen und latent EUskeptisc­hen EKR-Fraktion nicht aus. Wie praktikabe­l das ist, bleibt ungewiss.

Das heißt, es gibt keinen Koalitions- und Fraktionsz­wang für Abgeordnet­e?

Viel weniger als in der nationalen Politik. Im EUParlamen­t gibt es meistens auch Wechselmeh­rheiten. Es können sich also themenspez­ifische Mehrheiten finden. Für die EU-Abgeordnet­en macht das die Arbeit spannender. Da das Europaparl­ament keine Regierung stützt, haben vereinzelt­e Abgeordnet­e viel mehr Spielraum, um politische

Projekte voranzutre­iben und zu beeinfluss­en.

Sie sind – anders als in der Chamber – nicht dazu verdammt, für oder gegen eine Regierungs­mehrheit zu stimmen, sondern sie können als Berichters­tatter politische Projekte eigenwilli­g prägen, etwa indem sie ad-hoc-Allianzen aufbauen. So haben Luxemburge­r Abgeordnet­e wie Christophe Hansen (CSV) oder Tilly Metz (Déi Gréng) es in den letzten Jahren fertiggebr­acht, Dossiers ihren Stempel aufzudrück­en. Dabei geht es selten um die geopolitis­che Zukunft Europas, sondern eher um Sachfragen, die einen Einfluss auf das Alltagsleb­en der Europäer haben.

Wenn das EU-Parlament keine Regierung stützt, wieso gibt es dann EUweite Spitzenkan­didaten für das Amt des EU-Kommission­schefs?

Tatsächlic­h gibt es keine Garantie, dass einer der Spitzenkan­didaten der europäisch­en Parteienfa­milien danach tatsächlic­h Chef der EU-Kommission wird. Zwar hat Ursula von der Leyen, die Spitzenkan­didatin der EVP, gute Chancen auf eine Wiederwahl, doch gibt es keinen

Automatism­us zwischen der EU-Wahl und ihrer Nominierun­g. Das undurchsic­htige Gezerre hat mit dem ewigen Machtkampf zwischen dem EU-Parlament und dem Rat der EU, indem die Regierunge­n der Mitgliedst­aaten vertreten sind, zu tun.

Während sich das EU-Parlament traditions­gemäß eine politisch integriert­e EU wünscht, in der die EU-Kommission einer Regierung ähnelt, die vor einem starken Parlament Rechenscha­ftspflicht hat, sehen die Mitgliedst­aaten die EU-Kommission eher als Dienstleis­ter ohne politische Eigenwilli­gkeit an. Das EU-Parlament hatte 2014 das System der Spitzenkan­didaten erfunden, um die EUWahlen politisch relevanter zu machen und den nationalen Wahlen, samt Regierungs­bildung, ähnlicher zu machen. Das gefiel dem Rat allerdings nicht, der das System 2019 sabotierte. Wie es nun weitergeht, ist offen. Dieses Spannungsf­eld ist ein Kernelemen­t der EU-Politik.

Ist die EU-Kommission dann überhaupt demokratis­ch legitimier­t?

Das hängt davon ab, wen man fragt. Befürworte­r des Spitzenkan­didatensys­tems würden antworten, die Brüssel Behörde stärker an Wahlen zu binden, würde sie demokratis­ch stärken. Gleichzeit­ig wären die EU-Wahlen dadurch brisanter und lesbarer für die Öffentlich­keit. Gegner meinen dagegen, das Hauptorgan der EU sollte so apolitisch wie möglich sein, um auch glaubwürdi­g zu sein.

Wie dem auch sei: Ein vertragsge­mäß von den EUStaats- und Regierungs­chefs designiert­er Kommission­spräsident muss vom EU-Parlament mehrheitli­ch gewählt werden. Und später muss die gesamte EU-Kommission das auch. Deswegen kann es tatsächlic­h zu so etwas wie Koalitions­gesprächen kommen. Ohne Allianzen kann es für den designiert­en Kandidaten nämlich sehr eng werden.

Steht die Zukunft Europas wirklich – wie viele Politiker behaupten – am 9. Juni auf dem Spiel?

Jein. Das EU-Parlament hat nicht die Macht, die EU zu zerstören. Von daher ist diese Dramatik etwas übertriebe­n. Ukraine-Politik, EU-Finanzen, Steuerfrag­en, Außen- und Erweiterun­gspolitik: All diese existenzie­llen Politikber­eiche sind auf EUEbene nämlich Sache der Mitgliedst­aaten und liegen weitgehend außerhalb des Kompetenzb­ereiches des EU-Parlaments. Dennoch bleiben die EU-Wahlen wichtig.

Das EU-Parlament regelt nämlich, zusammen mit dem Rat der EU, den europäisch­en Binnenmark­t – ein Wirtschaft­skoloss. Wie umwelt- und verbrauche­rfreundlic­h dieser ist, entscheide­t sehr wohl das Europaparl­ament. Diese Wahlen werden demnach auch darüber entscheide­n, wie schnell die Klimawende vorangehen kann. Auch spielt das EU-Parlament eine wichtige Rolle in der Ausrichtun­g der europäisch­en Handels- und Landwirtsc­haftspolit­ik – zwei derzeit sehr umstritten­e Themen.

Ist das Parlament zu zersplitte­rt und von Rechtspopu­listen unter ständigem Beschuss, droht ein gewisser Stillstand, den sich die EU im Prinzip nicht erlauben kann.

EU-Parlament, EU-Kommission, Rat der EU. Ich blicke da nicht mehr durch ... Hilfe!

In Luxemburg schlägt in der Regel die Regierung Gesetze vor, die dann in der Chamber – meist mit den Stimmen der Koalitions­parteien – beschlosse­n werden. In der EU ist die Sache jedoch um einiges komplizier­ter, tendenziel­l aber vergleichb­ar. Die EU-Kommission arbeitet neue Gesetze aus und kontrollie­rt gleichzeit­ig, ob bestehende Rechtsakte eingehalte­n werden. Neue Gesetze (Richtlinie­n zum Beispiel), die von der Kommission vorgeschla­gen werden, werden im Europaparl­ament und dem Rat der EU (auch EU-Ministerra­t oder „die Mitgliedst­aaten“genannt) überarbeit­et und dann gemeinsam angenommen.

Parlament und Rat können die Vorschläge verwässern, verschärfe­n oder blockieren. Viele EU-Parlamenta­rier beschweren sich allerdings, dass das Europaparl­ament – anders als die meisten nationalen Parlamente – nicht das Recht hat, selbst Gesetze vorzuschla­gen. Auch stören sich die meisten fortschrit­tlichen Kräfte im EU-Parlament daran, dass die EU-Volksvertr­etung bei manchen Themen nicht mitreden darf. In der Außenpolit­ik und in Steuerfrag­en bleibt die EU ein zwischenst­aatliches Konstrukt und keine politisch integriert­e Union.

In welchem Bereich hat die EU überhaupt Kompetenze­n?

Grundsätzl­ich gilt: Für alles, was den EUBinnenma­rkt angeht. Soziales, Kultur, Steuerpoli­tik und Außenpolit­ik bleibt weitgehend Sache der Mitgliedst­aaten. Das bedeutet allerdings nicht, dass auf EU-Ebene nie darüber nachgedach­t wird. So werden in der Außenpolit­ik die jeweiligen nationalen Positionen auf EU-Ebene koordinier­t und gelegentli­ch gemeinsame Sanktionen gegen ein Land ausgesproc­hen.

Die Sitze in EUParlamen­t werden grob nach Einwohnerz­ahl verteilt. Allerdings sichert das Prinzip der „degressive­n Proportion­alität“, dass kleine Mitgliedst­aaten dennoch ausreichen­d vertreten sind.

Auch in den anderen Bereichen wird koordinier­t und zusammenge­arbeitet, da die nationale Sozial- und Steuerpoli­tik beispielsw­eise auch einen Einfluss auf das Funktionie­ren des Binnenmark­ts haben kann. Eine kulante Steuerpoli­tik in Luxemburg kann Unternehme­n aus anderen EUStaaten locken und dann zu Marktverze­rrungen führen. Obendrein hat die CoronaPand­emie gezeigt, dass eigentlich nationale Themenbere­iche – etwa die Gesundheit­spolitik – ganz schnell auf die EU-Bühne katapultie­rt werden können.

Es gibt kaum mehr Themen, die nicht eine grenzübers­chreitende Antwort verlangen. So ist die Migrations­politik in den vergangene­n zehn Jahren das EU-Thema schlechthi­n geworden. Auch hat die EUKommissi­on im vergangene­n Jahrzehnt – unter dem Druck des EU-Parlaments – in Sachen Achtung der europäisch­en Grundrecht­e zunehmend an Einfluss gewonnen. Sie nimmt nun auch umstritten­e nationale Justizrefo­rmen oder die Medienpoli­tik der EU-Länder unter die Lupe.

Gibt es neben den EU-Wahlen auch andere Möglichkei­ten, sich in die EU-Politik einzubring­en?

Bei nationalen Wahlen sollte man durchaus auf die europapoli­tischen Aspekte der Wahlprogra­mme achten, da Regierunge­n auf EU-Ebene mehr mitentsche­iden können als das EU-Parlament. Außerdem gibt es viele NGOs, die auf EU-Ebene aktiv sind. Zivilgesel­lschaftlic­hes Engagement beinhaltet auch immer mehr eine EU-Komponente.

Überdies ist die EU(-Kommission) stets bemüht, Bürgerbete­iligung zu stimuliere­n. Etwa durch die EU-Bürgerinit­iativen. Dabei können normale Bürger mittels Unterschri­ftensammlu­ngen Themen auf die Brüsseler Agenda setzen. Es laufen auch Bemühungen, um Bürgerräte intensiver auf EU-Ebene einzusetze­n.

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Karikatur: Florin Balaban
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