Der Duft von Zimt
„Dann sollen doch die Reichen für uns die Stadt sichern. Josephine und ich gehen zum Hafen“, verkündete Pépin und drehte sich zu ihr um – doch Josephine war verschwunden.
Josephine lief die Straße hinunter gen Süden. Sie durfte keine Zeit verlieren. Zwar hatte sie ein fürchterlich schlechtes Gewissen, den schwer verletzten Pépin bei seinen Kameraden zurückzulassen. Offensichtlich dachten sie überhaupt nicht daran, ihn zu versorgen, sondern wollten ihn in den nächsten Kampf schicken. Doch was konnte sie schon ausrichten? Am Ende wäre es ohnehin Pépin, der sich querstellte und den harten Mann mimte. Niemals würde er sich verarzten lassen. Entweder er kämpfte, oder er begleitete sie. Und die Begleitung eines verletzten Mannes würde ihr nicht helfen, ganz im Gegenteil. Nicht nur, dass er sie in seinem Zustand aufhielte. Ohne einen französischen Soldaten an ihrer Seite kam sie sowieso besser durch die randalierende Altstadt. Ein alter Mann rief ihr zu, sie solle nach Hause gehen, dies hier sei kein Ort für eine Frau.
Ein eleganter Herr auf einem Pferd ritt sie beinahe über den Haufen, bevor er ihr Beschimpfungen nachrief und dann eine
Gruppe von Arbeitern niedertrampelte. Doch die wenigsten Männer – weder die Armen, noch die Reichen – beachteten sie überhaupt. Hier und da sah Josephine auch Frauen und Kinder kämpfen. Sie hockten zwischen Karren oder Kisten, versteckten sich hinter Fensterläden und warfen mit Steinen.
Mit gerafftem Rock passierte sie die St.–Nikolai-Kirche – und hielt auf dem Hopfenmarkt verblüfft inne. Denn dort ritten auf eleganten Pferden Männer in roten Jacken und mit fellbesetzten Helmen ein. Wenn sich Josephine nicht irrte, waren das dänische Husaren! Sie konnte sich ein hoffnungsvolles Lächeln nicht verkneifen.
Waren die Dänen etwa aus Altona gekommen, um Hamburg doch noch zu befreien? Ruhig und freundlich sicherten sie die Straßen. Langsam ließen die Arbeiter ihre Steine und Holzbretter sinken. Sie sahen erst einander fragend an, und als ihnen nichts geschah, ließen sie die Waffen fallen, lachten, klatschten und jubelten.
„Hurra!“, riefen sie. „Die Dänen sind da!“
Konnte das wirklich wahr sein? Würden die Dänen Hamburg befreien? Onkel Fritz hatte ihr einmal erklärt, dass sich Dänemark und Frankreich nicht besonders grün waren. Aber Genaueres wusste sie darüber nicht. Vielleicht nutzte das Königreich ja nun die einmalige Gelegenheit, da nur noch wenige Franzosen in
Hamburg stationiert waren und die Hamburger selbst schon ganze Arbeit geleistet hatten, um Napoleon aus der Nachbarschaft zu vertreiben. Wie wunderbar das wäre! Die Kontinentalsperre wäre aufgehoben, der Handel mit England wieder erlaubt. Die vielen Taue am Hafen würden gelöst, die Anker gelichtet und Segel gehisst werden. Hamburger Schiffe könnten wieder in die Ferne aufbrechen und voll beladen zurückkehren. Auf den Fleeten wären wieder Schuten unterwegs, die Waren in die Stadt hineinbrachten. Onkel Fritz und Josephine bräuchten nicht mehr nach Altona zu gehen. Die Stadt könnte aufatmen.
Doch sie hatte keine Zeit, weiter zu träumen, sie musste Fritz finden. Also riss sie sich von dem
Anblick der Husaren los und lief weiter.
„Nicht so schnell“, rief einer der Dänen mit leichtem Akzent und ritt auf sie zu. „Wo soll es denn hingehen, junge Frau?“
Sie blieb stehen und lächelte ihn an. „Es ist so schön, dass Sie da sind, lieber Herr! Ohne Sie würde diese Stadt noch so lang Hunger leiden! Ich suche meinem Onkel … er ist am Hafen, wahrscheinlich ist er verletzt.“
Er blinzelte einmal, und mit steifem Hals und eingefrorenem Lächeln erwiderte er: „Sie sollten besser nach Hause gehen.“
Sein Blick beunruhigte sie. Während er mit ihr sprach, fixierte er nicht ihr Gesicht, sondern sah knapp an ihr vorbei. So ähnlich hatte früher ihre Schwester geschaut, wenn sie ein schlechtes Gewissen hatte und es vor ihr verbergen wollte. Und dann bemerkte sie, dass hinter seinem Rücken zwei seiner Kameraden eine Kanone auf den Platz rollten. War das wirklich nötig? Wollten sie etwa mit Kanonen auf die Franzosen zielen? Am Ende würden sie nur die Gebäude Hamburgs treffen und mehr Schaden als Nutzen anrichten. Die Menschenmenge auf dem Hopfenmarkt schien sich das Gleiche zu fragen. Nach und nach verebbte der Jubel. Irritiert beobachteten die Hamburger das Geschehen.
Der Reiter, der Josephine gerade angehalten hatte, lenkte sein Pferd um die eigene Achse, ritt zur Mitte des Hopfenmarkts und verkündete mit klarer Stimme: „An alle Hamburger: Der Kampf ist vorbei. Bewahrt Ruhe. Geht in eure Häuser. Tut, was man euch sagt. Andernfalls müssen wir schießen.“
Für einen kurzen Moment war es vollkommen still auf dem Hopfenmarkt. Josephine riss die Augen auf. Schlagartig begriff sie, dass sie zu wenig über Politik und das Verhältnis zwischen Napoleon und Dänemark wusste. So wie wahrscheinlich die meisten Hamburger. Napoleon musste mit den Dänen ein Abkommen getroffen haben, von dem die einfachen Leute nichts geahnt hatten, und nun hatte das französische Militär die Husaren um Hilfe gebeten.
Josephine sah sich um: Die Dänen standen mit zwei Reitern an jeder Ecke. Sie hatten sämtliche Kreuzungen gesichert. Wahrscheinlich nicht nur hier auf dem Hopfenmarkt, sondern in der ganzen Stadt.
Die Menschen hatten gedacht, ihre Nachbarn seien ihnen zur Hilfe geeilt. Doch nun zielten ihre Kanonen nicht auf die Franzosen, sondern in die Hamburger Menschenmenge hinein, auf Kirchen, Wohnhäuser und Ladengeschäfte. Auf das Letzte, was dieser Stadt noch geblieben war.
Langsam drehte sich der Reiter zu Josephine um.
Rebekka Eder: „Der Duft von Zimt“, Copyright © 2022 Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, ISBN 978-3-499–00833-7