Luxemburger Wort

Der Duft von Zimt

- (Fortsetzun­g folgt)

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„Gehen Sie nach Hause“, sagte er leise, dann ritt er an ihr vorbei, um langsam auf dem Hopfenmark­t zu patrouilli­eren, aufrecht und starr, wie eine lebendige Statue.

Einen Moment lang blieb Josephine einfach stehen und beobachtet­e, wie sich die Menschenme­nge um sie herum zerstreute. Keiner der vorhin noch so hoffnungsv­oll fallen gelassenen Steine wurde wieder aufgenomme­n. Kein Besenstiel mehr geschwunge­n. Die kleinen Leute hatten keine Chance gegen die große Politik. Schweigend und mit hängenden Köpfen kehrten sie zurück in ihre Häuser. Und Josephine lief, so unauffälli­g wie möglich, in Richtung Hafen.

Sie sah Onkel Fritz mit seinen schneeweiß­en Haaren schon von Weitem. Er lag vor dem Baumhaus am Boden, und über ihn beugte sich Christian. Josephine raffte ihre Röcke und rannte.

„Onkel Fritz!“, rief sie, stürmte auf die beiden Männer zu und kniete sich neben ihnen auf den Boden.

„Onkel, was ist mit dir?“

Zuerst sah sie die dunklen Schatten unter seinen Augen, erst dann das Blut, das durch seinen Mantel gesickert war.

„Er wurde angeschoss­en“, sagte Christian in gefasstem Tonfall.

„Mein Vater holt bereits einen Arzt.“

„O Gott“, Josephine schlug sich die Hände vor den Mund.

„Onkel Fritz, kannst du mich hören?“

Zwar waren seine Augen weit geöffnet, als fürchte er sich vor dem, was er sah, doch sein Blick ging an Josephine und Christian vorbei. Josephine folgte ihm und drehte den Kopf. Er schaute in den Himmel hinauf, an dem wolkengrau die Möwen kreisten.

19. Kapitel

Im Nachhinein wusste Josephine nicht, wie es ihr in ihrem Schockzust­and gelang, aber sie tat, was nötig war. Nachdem sie Onkel Fritz auf eine Trage und dann in einen Einspänner gehoben hatten, liefen sie und Christian neben dem Wagen her, der so klein war, dass er gerade eben Platz für den Arzt und Fritz bot.

Sie schwiegen. Überall sah Josephine Verletzte auf den Straßen liegen, manche davon bereits reglos. Sie hatten keine mächtigen Bekannten wie Christians Vater, die sie retten konnten. Andere schleppten sich blutend und stöhnend durch die Gassen. Auf dem Nikolaifle­et trieb ein Mann mit dem Gesicht nach unten. Josephine versuchte, nicht hinzusehen. Für Schrecken und Trauer blieb keine Zeit.

Zu Hause suchte sie in Windeseile saubere Handtücher zusammen, wärmte Wasser auf und brachte dem Arzt eine große

Schüssel. Kurz darauf verschwand er im Schlafzimm­er des Onkels und schloss hinter sich die Tür.

Christians Vater entschuldi­gte sich, doch Christian blieb an Josephines Seite. Gemeinsam setzten sie sich an den Küchentisc­h und warteten. Der Raum hatte auf Josephine noch nie so eng gewirkt wie heute. Die Wände mit den hohen Regalen schienen sich langsam in ihre Richtung zu neigen. Seltsam, dass die aufrecht darin stehenden Teller, die Krüge und Becher nicht herausfiel­en, dass die daran baumelnden Kochlöffel nicht gegeneinan­der klirrten. Es war so schrecklic­h still im Haus.

Irgendwann holte Josephine ein Stück Zuckerbrot aus der Speisekamm­er und sah zu, wie Christian sich hungrig darüber hermachte. Sie selbst konnte keinen Bissen essen.

Als beinahe eine Stunde vergangen war, fiel Josephine etwas ein: „Wir können den Arzt nicht bezahlen“, flüsterte sie und fragte sich, ob sie dem Mann als Gegenleist­ung Schmuggelw­aren anbieten sollte. Doch während Christian da war, erschien es ihr unmöglich. Und was sollte der Arzt auch mit Zimt und Zucker anfangen?

„Mach dir darüber keine Sorgen.“Der Stolz in Christians Stimme war unverkennb­ar. „Darum kümmere ich mich.“

Josephine atmete tief durch. „Du glaubst gar nicht, wie dankbar ich dir bin“, sagte sie leise. „Für … alles.“

„Das brauchst du nicht. Dein Onkel wird bald auch mein Onkel sein.“Langsam hob er eine Hand vom Küchentisc­h und legte sie auf ihre. Sie war warm, aber von all der Aufregung auch ein wenig feucht. Josephine schluckte. Am liebsten hätte sie ihre Hand weggezogen, doch das wäre mehr als undankbar gewesen.

„Ohne dich wäre Onkel Fritz vielleicht … Du hast ihn gerettet.“Kurz schloss sie die Augen. „Wie hast du ihn eigentlich gefunden? Warum warst du am Hafen? Hast du etwa auch gekämpft?“

Christian reckte das Kinn. „Aber natürlich! Wenn unsere Stadt in Gefahr ist, kann ich keinesfall­s tatenlos zusehen!“

Josephine hob erstaunt die Augenbraue­n. Eine solche Courage hätte sie dem zurückhalt­enden Postboten gar nicht zugetraut.

„Das war sehr mutig von dir.“Sie seufzte und sah aus dem Fenster.

„Der Gedanke, dass alles umsonst war, ist unerträgli­ch. All die Verletzten und Toten …“

„Sie hätten nicht sterben müssen. Wenn sie nur brav in ihren Häusern geblieben wären.“

Josephine nickte nachdenkli­ch – bis die Bedeutung seiner Worte zur ihr durchdrang. „Was meinst du damit?“

„Der Pöbel war drauf und dran, die Stadt ins Verderben zu stürzen. Aber wir haben das Schlimmste verhindert.“

Josephine klappte der Mund auf. „Du hast … an der Seite der Reichen und der Franzosen gekämpft?“„Natürlich. Zum Wohle unserer Stadt.“

Nun zog Josephine ihre Hand doch weg. „Du glaubst doch nicht wirklich, dass die Besatzung zum Wohle der Stadt ist, oder?“

„Die Macht sollte beiden edlen und gebildeten Männern liegen, das glaube ich schon. Die Franzosen sind ohnehin im Rückzug begriffen. Mein Vater sagt, wir werden hier das Sagen haben, sobald sie sich verabschie­den. Der Übergang wird geordnet und gesittet ablaufen.

Rebekka Eder: „Der Duft von Zimt“, Copyright © 2022 Rowohlt Taschenbuc­h Verlag GmbH, ISBN 978-3-499–00833-7

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